Wann ist „Israelkritik“ antisemitisch? Teil 2 von 3 einer Mini-Serie über die israelfeindliche BDS-Kampagne

Im ersten Teil dieser Mini-Serie ging es um die grundlegende Ausrichtung der BDS-Kampagne, die nicht als „israelkritisch“, sondern als israelfeindlich zu charakterisieren ist. Bevor ich im dritten und letzten Teil darlege, wie ein angemessener Umgang mit der Kampagne auszusehen hätte, diskutiere ich in diesem zweiten Teil die unvermeidliche Frage, ob und in welchem Sinne die Kampagne und/oder ihre Unterstützer_innen auch als antisemitisch bezeichnet werden sollten – auch wenn ich diese Frage nicht für die wichtigste halte.[1] Dabei vertrete ich die These, dass die BDS-Kampagne als ganze antisemitisch ist, ihre Unterstützer_innen aber nicht pauschal als Antisemit_innen gelten können.

(Link zu allen drei Teilen in einer PDF, Layout: druckkollektiv unterdruck)

Für die, die es eilig haben: Zwei Schnelltests

Wie ich im Folgenden darlege, ist Antisemitismuskritik keine triviale Angelegenheit. Dennoch gibt es dankenswerterweise immer wieder Versuche, einfach handhabbare Arbeitsdefinitionen und Kriterien zu entwickeln, anhand derer sich ohne aufwändige Argumentation darlegen lässt, ob Antisemitismus vorliegt – in diesem Falle, ob eine bestimmte Form der „Israelkritik“[2] als antisemitisch einzustufen ist.

Der wohl bekanntestes Schnelltest auf diesem Gebiet ist der von Nathan Sharansky entwickelte und von mehreren Institutionen verwendete 3-D-Test. Diesem Zufolge ist Kritik an Israel und seiner Politik dann als antisemitisch einzustufen, wenn eine Delegitimierung jüdischer nationaler Selbstbestimmung, eine Dämonisierung Israels oder eine Anwendung von Doppelstandards vorliegt – wohlgemerkt reicht es bei dem Test, eines der drei Kriterien zu erfüllen, um als antisemitisch zu gelten. BDS erfüllt alle drei.

Dass BDS auf die Delegitimierung Israels als jüdischer Staat zielt, habe ich im ersten Teil dieser Serie dargelegt: Auch wenn die offiziellen Forderungen vage gehalten sind, könnte Israel sie nur um den Preis der Selbstaufgabe umsetzen. BDS-Mitbegründer Omar Barghouti lehnt die Existenz eines jüdischen Staates im Nahen Osten ganz explizit ab – auch in Form eines binational jüdisch-palästinensischen Staates. Der Vergleich Israels mit Apartheids-Regime, der für BDS konstitutiv ist, zielt ebenfalls auf eine Delegitimierung – ein Apartheidsregime kann nie legitim sein. Dieser Vergleich zielt dabei regelmäßig nicht nur auf eine bestimmte Regierungspolitik, sondern auf die Existenz Israels als jüdischer Staat.

Mit diesem Vergleich ist ebenfalls schon die Grenze zur Dämonisierung überschritten. Noch deutlicher gilt dies für die Gleichsetzung der israelischen Politik mit der des Nationalsozialismus, die bei BDS üblich ist – in der Rede von Gaza als „concentration camp“, von „ghettos“ und „genocide“.

Dass Israel von BDS an Doppelstandards gemessen wird, ist völlig offenkundig: Kein anderes Land der Welt ist einer vergleichbaren Kampagne ausgesetzt, die auf eine ökonomische, politische und kulturelle Isolierung einer ganzen Bevölkerung zielt. Jedoch kann Israel kaum als der schlimmste Menschenrechtsverletzer der Welt gelten, so dass dieser einmalige Umgang letztlich nur dadurch zu erklären ist, dass Israel als jüdischer Staat an anderen Maßstäben gemessen wird als andere Staaten (auf potenzielle Gegenargument gehe ich in den letzten Abschnitten dieses Textes ein).

Somit erfüllt BDS alle drei Kriterien des 3-D-Tests.

Die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die jüngst medial präsent war, weil die British Labour Party sie nicht in allen Punkten übernahm, bietet ebenfalls schnell handhabbare Kriterien, anhand derer Antisemitismus erkannt werden kann. Insgesamt umfasst die Definition elf Kriterien, fünf davon beziehen sich auf „Israelkritik“. Diese gilt als antisemitisch, wenn einer der folgenden Sachverhalte vorliegt:

– Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
– Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
– Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
– Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
– Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
– Das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel.

Dass der erste (Ablehnung jüdischer Selbstbestimmung), zweite (Doppelstandards) und vierte Punkt (NS-Vergleich) den BDS-Aktivismus prägen, habe ich im ersten Teil und oben dargelegt. Die Verwendung von traditionell antisemitischen Bildern und Symbolen findet sich im Kontext von BDS-Aktivismus zwar durchaus (s.u.), sie ist aber nicht im selben Maße prägend für das offizielle Agieren der Kampagne – schon gar nicht in solch eindeutigen Formen wie Ritual- und Christusmordlegenden. Ähnliches gilt für das „kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel“.

Auch wenn diese Schnelltests darauf verweisen, dass die BDS-Kampagne als ganze antisemitisch ist, heißt dies nicht, dass auch alle Beteiligten von antisemitischen Motiven getrieben oder gar selbst als Antisemit_innen zu bezeichnen sind. Die individuellen Motivationen sind vielfältig und teils völlig wohlmeinend und können nicht auf Antisemitismus reduziert werden – jedoch kann man von den Einzelnen durchaus verlangen, den Antisemitismus der Kampagne zu erkennen und entsprechend auf eine Unterstützung zu verzichten.

Für die, die Zeit haben: Jenseits der Schnelltests

Schnelltests wie der 3-D-Test und die IHRA-Definition haben den Vorteil, dass sie leicht handhabbare Kriterienkataloge bieten. Allerdings haben sie auch zwei große Nachteile: Erstens können sie nur diejenigen überzeugen, die von den Kriterien selbst überzeugt sind – und diese sind nicht selbstverständlich.

Zweitens sind sie wie alle Schnelltests relativ grob und wenig kontextsensibel. So werden Anarchist_innen definitionsgemäß jeden Staat delegitimieren und vielfach auch dämonisieren; wenn sie das dann auch in Bezug auf Israel tun, kann man ihnen womöglich mangelnde Berücksichtigung von Antisemitismus und der besonderen Gründungsgeschichte Israels vorwerfen. Der Vorwurf, dass ihre Ablehnung von Staatlichkeit damit selbst antisemitisch wäre, überzeugt aber zumindest nicht unmittelbar. Ähnlich könnten Bürger_innen eines demokratischen Staates gute, nicht antisemitische Gründe haben, den eigenen Staat oder verbündete Demokratien an höheren Standards zu messen als eine Diktatur in 1000 Kilometern Entfernung, so dass auch nicht jede Anwendung von Doppelstandards direkt als antisemitisch gelten kann.

Um diese Schwächen der Schnelltests zu vermeiden, möchte ich im Folgenden noch einmal darlegen, dass sich die Kriterien dieser Schnelltests und das Ergebnis in Bezug auf BDS auch ausführlich begründen lassen. Dafür erläutere ich zunächst, was ich unter Antisemitismus verstehe, lege dann dar, mit welchen Argumentationsweisen man bestimmte Formen der „Israelkritik“ als antisemitisch ausweisen kann und skizziere dies am Ende am Beispiel von BDS.

Antisemitismus als historisches Phänomen

Antisemitismus ist kein zeitlos-konstantes Phänomen, sondern eine Ideologie, die historischen Dynamiken unterworfen ist und sich sozialen Begebenheiten anpasst, die ebenfalls im Wandel begriffen sind. Der Begriff des Antisemitismus wurde (zunächst als Selbst- dann als Fremdbezeichnung) geprägt, um eine ideologische Formation zu erfassen, die in ihrer klassischen Form in den letzten Jahrzehnten des 19. Sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt sehr präsent war.

Diese klassische Form von Antisemitismus hat mehrere Eigenschaften:

  • Auf der offensichtlichsten Ebene ist Antisemitismus in seiner klassischen Form ein Vorurteil gegen Jüd_innen, denen bestimmte Eigenschaften als wesenhaft zugeschrieben werden (Bösartigkeit, Raffgier, Verschlagenheit, Hinterlist, eine Tendenz zur Verschwörung, Wurzellosigkeit etc.).
  • Darüber hinaus ist der klassische Antisemitismus aber zugleich auch ein Weltbild und sogar eine Welterklärung. Der Antisemitismus weist Jüd_innen nicht nur bestimmte schlechte Eigenschaften zu; ihr mit diesen Eigenschaften verbundene Agieren ist zugleich auch die Erklärung für alles, was auf der Welt schlecht ist. Dieses Weltbild ist dadurch geprägt, dass die schwer fassbaren, hochgradig vermittelten Prozesse von Herrschaft in modernen Gesellschaften personifiziert werden: Anstelle abstrakter Mechanismen beherrscht dann eine Verschwörung bösartiger jüdischer Individuen die Welt. Dieses Weltbild ist durch mehrere Gegensatzpaare geprägt: Das Natürliche, Gewachsenen, Konkrete, Echte, Ehrliche, Schaffende usw. wird der nichtjüdischen Eigengruppe zugeschrieben, das Künstliche, Gemachte, Abstrakte, Unechte, Unehrliche, Raffende usw. dagegen der jüdischen Gegengruppe.
  • Zusammengenommen führt beides zu der Vorstellung, dass der Kampf gegen Jüd_innen und der Kampf gegen das Böse in eins fallen und ein Sieg über die Jüd_innen die Befreiung der Welt vom Bösen bedeutet. Im Extremfall nimmt dies die Form des eliminatorischen Antisemitismus an, in dem die Ermordung aller Jüd_innen die Erlösung der Welt vom Bösen bedeutet.
  • Eine historische Besonderheit in dieser Hochphase des Antisemitismus war die Verbindung mit einer biologistischen Rassenideologie: Jüdischsein wird dann nicht als religiöse, kulturelle oder nationale Identifikation verstanden, sondern als biologische “Rasse”. Damit galten die vermeintlich jüdischen Charaktereigenschaften als genetisch bedingt und völlig unwandelbar – jedoch heißt dies im Umkehrschluss nicht, dass nichtbiologistischer Antisemitismus Jüd_innen unbedingt reale Auswege ließe.

Will man verstehen, warum es zu dieser ideologischen Formation kam, muss man einerseits auf die sozioökonomische Struktur, andererseits auf kulturelle Prozesse eingehen.

Die sozioökonomische Struktur erklärt insbesondere, warum es diese Art des Weltbildes überhaupt gibt: Die sozialen Verhältnisse in Gesellschaften mit kapitalistischer Ökonomie, nationaler Staatlichkeit und moderner Verwaltung sind unüberschaubar, in hohem Maße vermittelt und zudem notorisch krisenhaft. Dies macht Ideologien, in denen alle Probleme der Welt durch die Machenschaften einer klar definierten verschwörerischen Gruppe erklärt werden, attraktiv. Dies gilt insbesondere, wenn dieser Gruppe noch all die Eigenschaften zugeschrieben werden, die das Ungreifbare der Moderne ausmachen.

Solche strukturellen Überlegungen verdeutlichen zwar, dass moderne Gesellschaften mit einiger Notwendigkeit antisemitische Weltbilder und Projektionen hervorbringen, sie erklären aber nicht, warum es die Jüd_innen sind, an denen diese Weltbilder ausagiert werden. Das antisemitische Subjekt braucht Objekte für seine Projektionen – Sartre sagt, wenn es keine Jüd_innen gäbe, hätten die Antisemit_innen sie erfinden müssen –, allerdings ist es historisch kontingent, dass Jüd_innen zu diesem Objekt wurden.

Dass es so kam, ist nur durch historisch-kulturelle Umstände in der europäischen Geschichte zu erklären. Diese bestehen auf der einen Seite darin, dass sich im christlichen Mittelalter bereits ein Judenbild etabliert hatte, das in zentralen Punkten mit dem antisemitischen Weltbild übereinstimmte – so waren Erzählungen über jüdische Verschwörungen, Wucher, Blutrituale etc. in Europa geläufig. Aus diesem vormodernen kulturellen Reservoir konnte der moderne Antisemitismus schöpfen. Auf der anderen Seite war die soziale Position von Jüd_innen aus Gründen, die mehr mit der sozialen Umwelt als mit dem Judentum zu tun hatten, so gestaltet, dass sie sich als Objekte für antisemitische Projektion eigneten – sie waren als Minderheit über weite Teile der Welt verstreut und aufgrund ihres Ausschlusses aus dem Zunftwesen sowie aufgrund des christlichen Zinsverbots in Handwerksberufen stark unter-, in Handel und Geldwirtschaft dagegen überrepräsentiert.

Insofern ist die Verbindung von antisemitischem Weltbild und antijüdischem Vorurteil historisch zufällig, sie ist aber keinesfalls beliebig oder flüchtig. Im Gegenteil hat sie sich nachhaltig etabliert und in der ganzen Welt verbreitet, sodass sie sogar in Gesellschaften Afrikas oder Asiens zu finden ist, in denen es keine relevante jüdische Minderheit gibt. Das antisemitische Weltbild findet mit großer Regelmäßigkeit und Zielgenauigkeit zu seinem jüdischen Objekt zurück.

Antisemitismus als dynamisches Phänomen

Antisemitismus in dieser klassischen und offenen Form existiert weiter, ist heute in westlichen Ländern aber weitgehend aus dem offiziellen Diskurs ausgeschlossen, sodass er eher an Rändern und in Nischen zu finden ist. Kaum jemand würde in Deutschland öffentlich eine Vernichtung der „jüdischen Rasse“ fordern und als Erlösung darstellen – wenn doch, wäre das nicht nur der automatische Ausschluss aus der guten Gesellschaft, sondern auch strafrechtlich relevant.

Jedoch besteht weiterhin eine moderne Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie und nationaler Staatlichkeit – und somit bestehen auch weiter die kaum durchschaubaren Herrschaftsverhältnisse, die sich die Subjekte so bequem mit dem antisemitischen Weltbild erklären können. Entsprechend besteht auch die ideologische Formation des Antisemitismus fort – aber in transformierter Form.

Transformiert ist sie zum einen, weil die durch das antisemitische Weltbild zu erklärenden gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr dieselben wie im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert sind – vormoderne Restbestände wurden weiter abgebaut, die politisch-ökonomische Struktur weiter ausdifferenziert, immer neue Lebensbereiche durchdrungen usw. Diese Veränderungen führen insgesamt dazu, dass die modernen Verhältnisse einerseits selbstverständlicher, aber andererseits noch undurchschaubarer geworden sind.

Der zweite Grund für die Transformation des Antisemitismus ist die Niederlage des Nationalsozialismus, die Verurteilung seiner Verbrechen sowie die Delegitimierung seiner Ideologie und somit auch des offenen Antisemitismus. Das Denken in Rassen ist insgesamt delegitimiert, der offene Hass auf Jüd_innen ebenfalls; gleichzeitig ist die Realität des Verbrechens (nicht nur, aber insbesondere im Land der Täter_innen) mit einem Komplex von Schuld und Abwehr verbunden.

Dies führt dazu, dass das antisemitische Weltbild nunmehr andere Formen annimmt, in denen es nicht mehr als offener Judenhass zu erkennen ist. Diese Vermeidung von offen antisemitischen Artikulationen ist in der Regel keine bewusste Täuschung der Umwelt. Sicherlich gibt es auch Menschen, die Jüd_innen ganz bewusst hassen, es aber öffentlich so nicht zugeben möchten. Der großen Mehrheit wird man aber glauben dürfen, dass sie wirklich nicht antisemitisch sein will und sich selbst keineswegs als Judenhasser_innen versteht. Die Selbstzensur findet nicht erst als Anpassung des äußeren Verhaltens statt, sondern bereits weit vorher im eigenen Kopf.

Entsprechend tritt Antisemitismus heute in westlichen Öffentlichkeiten zumeist in chiffrierter Form auf: Manchmal wird das antisemitische Weltbild so formuliert, dass die Verschwörer_innen im Hintergrund nicht „die Juden“ sind und es stattdessen um die Machenschaften bestimmter „Bankiersfamilien“ (gerne mit „jüdischen Namen“), um „die Ostküste“ oder ganz Vage um „die, die eigentlich die Strippen ziehen“ geht (struktureller Antisemitismus). Manchmal geht es gar nicht darum, Hass und Mord gegen Jüd_innen zu legitimieren, sondern nur darum, dass man nicht immer wieder darauf hingewiesen werden will, dass der Holocaust stattgefunden hat und Antisemitismus existiert. Dieser Hinweis ist schmerzlich, für den Schmerz und seine „Ausnutzung“ werden Jüd_innen verantwortlich gemacht (sekundärer Antisemitismus). Und manchmal geht es um Israel, dem im extremen Fall nicht nur all die Bösartigkeit zugeschrieben wird, die im klassischen Antisemitismus als „jüdisch“ galt, sondern auch eine Wiederholung der Verbrechen, die im Nationalsozialismus an Jüd_innen begangen wurden (israelbezogener Antisemitismus).

Antisemitismuskritik als Dechiffrierung: Drei Argumentationsstrategien

Diese Transformationen stellen die Antisemitismuskritik vor Herausforderungen. Herausforderungen bestehen ganz offensichtlich auf der pragmatischen Ebene: Antisemitismus wird in aller Regel mit dem auf Vernichtung einer Rasse zielenden Antisemitismus des Nationalsozialismus identifiziert – und (fast) niemand versteht sich heute in diesem Sinne als Antisemit_in. Entsprechend wird der Vorwurf des Antisemitismus regelmäßig als ungerechtfertigte Beleidigung zurückgewiesen.[3]

Daher muss deutlich gesagt werden: Wenn man heute von Antisemitismus spricht, spricht man nicht nur offenem von Judenhass; wenn man einer Person oder Gruppierung Antisemitismus vorwirft, wirft man ihr nicht automatisch vor, Nazi zu sein oder alle Jüd_innen zu hassen. Man wirft ihr vor, an der ideologischen Formation des Antisemitismus teilzuhaben. (Nicht weiter ein gehe ich hier auf das ewige Missverständnis, Antisemitismus sei im Kern eine Abneigung gegen Semit_innen. Nein, ist er nicht.)

Jedoch gibt es auch theoretische und methodische Herausforderungen: Weil sich die ideologische Formation des Antisemitismus transformiert hat, stellt sich die Frage, welche Elemente der klassischen Formation vorliegen müssen, um weiter von Antisemitismus sprechen zu können. Weiterhin muss man darlegen, anhand welcher Kriterien man diese Elemente heute erkennt. Kurzum ist darzulegen, wie man den chiffrierten Antisemitismus dechiffrieren kann.

Den ideologischen Kernbestand, der vorliegen muss, um plausibel von Antisemitismus sprechen zu können, kann man einerseits darin ausmachen, dass Antisemitismus gegen Jüd_innen als Jüd_innen gerichtet ist; andererseits kann man ihn in an den Inhalten des Weltbildes festmachen, also anhand dessen, wie die Welt gedeutet und welche Zuschreibungen dabei gemacht werden. Insgesamt ergeben sich daraus drei Argumentationsstrategien:

In der ersten Argumentationsstrategie geht es darum zu zeigen, dass das Denken und Handeln der entsprechenden Personen in einem obsessiven, rational nicht erklärbaren Ausmaß immer und immer wieder (negativ) auf Jüd_innen, das Judentum sowie mit dem Judentum verknüpfte Themen fixiert ist. Freilich kann von einer bloßen Thematisierung oder Schwerpunktsetzung auf solche Themen noch nicht auf eine antisemitische Obsession geschlossen werden. Dafür muss ein Überschuss oder eine Verdichtung aufgezeigt werden, die rational nicht zu begründen wäre. Ein relativ offensichtliches Beispiel hierfür ist Jakob Augstein, dem es bei jedem Thema gelingt, einen Brückenschlag entweder zu Israel oder zum Holocaust zu produzieren.

In der zweiten Argumentationsstrategie muss man darlegen, dass sich in den Äußerungen bestimmter Akteur_innen regelmäßig Kernelemente des antisemitischen Weltbildes finden lassen: die Personalisierung abstrakter Verhältnisse, das Denken in Verschwörungen, das Ausspielen des Natürlichen, Gewachsenen, Konkreten, Echten, Ehrlichen, Schaffenden gegen das Künstliche, Gemachte, Abstrakte, Unechte, Unehrliche, Raffende. Dabei reicht es nicht hin, einzelne dieser Elemente auszumachen und dann reduktionistisch auf ein antisemitisches Weltbild zu schließen. Wenn ein Stück Urwald einer Fabrik weichen soll und der Genehmigungsprozess durch Vetternwirtschaft geprägt war, mag eine Kritik dieser Vorgänge, die die involvierten Personen beim Namen nennt, der übereifrigen Antisemitismuskritiker_in als Ausspielen von Natürlichem gegen Künstliches, als Verschwörungsdenken und als Personalisierung erscheinen. Jedoch wäre es völlig verfehlt, davon auf Antisemitismus zu schließen. Um ernsthaft von Antisemitismus sprechen zu können, muss neben einzelnen Elementen wiederum ein überschießendes, irrationales Moment oder eine rational nicht erklärbare Verdichtung dieser Elemente zu einem Weltbild aufgezeigt werden.

In der dritten Argumentationsstrategie geht es um Antisemitismus weniger als einen Vorgang im Kopf antisemitischer Subjekte, sondern eher als objektive Struktur, die die Lebenschancen von Jüd_innen als Jüd_innen vermindert und ihr Leben im Extremfall gefährdet, deren Vorliegen aufzuzeigen ist. Der Zusatz Jüd_innen als Jüd_innen verweist darauf, dass Jüd_innen von dieser Struktur nicht nur überproportional, sondern in besonderer Weise getroffen sind: Wenn etwa der Klimawandel allen Menschen schadet, schadet er auch Jüd_innen – wenn diese überproportional in küstennahen Gebieten wohnen, vielleicht sogar überproportional. Das heißt aber nicht, dass diejenigen, die den Klimawandel durch ihr Handeln oder durch seine Verleugnung vorantreiben, antisemitisch handelten, denn der Klimawandel trifft Jüd_innen sicher nicht als Jüd_innen. Diese dritte Argumentation hat den Vorteil, dass sie nicht auf die Motivation der Subjekte zielt und somit keiner Spekulation über innerpsychische Prozesse bedarf. Werden dabei dennoch Subjekte adressiert, geht es nicht um die Frage, ob diese antisemitisch denken und motiviert sind, sondern um die Frage, ob sie mit ihrem Handeln antisemitische Strukturen stützen und stärken (oder antiantisemitische unterminieren).

Um sinnvoll von Antisemitismus sprechen zu können, muss man zumindest eine dieser drei Argumentation überzeugend entfalten, besser noch zwei oder alle drei. Gelingt es ausschließlich in der zweiten Arguementationsstrategie und liegt kein spezifischer Bezug auf Jüd_innen vor, ist nur von strukturellem Antisemitismus zu sprechen.

Noch einmal: Warum die BDS-Kampagne als antisemitisch zu bezeichnen ist

Eine der chiffrierten Artikulationsformen ist der israelbezogene Antisemitismus – und dies ist die im Kontext von BDS relevanteste. Beim israelbezogenen Antisemitismus wird das, was über Jüd_innen nicht offen gesagt werden darf, als scheinbar legitime Kritik des israelischen Staates und seiner Regierung formuliert – als „Israelkritik“ eben. Auch hier steht Antisemitismuskritik vor der Aufgabe, Überschuss, Irrationalität und Verdichtung aufzuzeigen. Denn selbstverständlich kann es legitime Kritik an jedem Staat und jeder Regierung wirklich geben – und sie ist nicht schon dadurch antisemitisch, dass der Staat jüdisch ist. Um Antisemitismus nachzuweisen, muss man auch hier die drei oben angeführten Argumentationsstrategien durchspielen.

Argumentation 1: BDS als obsessive Bezugnahme auf Israel

Mit der ersten Argumentationsstrategie müsste gezeigt werden, dass sich in einer bestimmten Form der „Israelkritik“ eine obsessive (negative) Bezugnahme auf Jüd_innen und das Jüdische ausdrückt, die rational nicht begründbar ist – diese Argumentation führt unter anderem zum Kriterium der Doppelstandards sowie zum Verantwortlichmachen aller Jüd_innen für israelische Politik.

Wie im ersten Teil dieser Serie sowie bei der einleitenden Anwendung der Schnelltests dargelegt liegt der Vorwurf von Doppelstandards im Falle von BDS sehr nahe: Von allen Staaten dieser Welt, wird ausschließlich Israel Objekt einer Kampagne, die seine Legitimität als Staat in Zweifel zieht und zur ökomischen, politischen und kulturellen Isolation der ganzen Gesellschaft aufruft. Der Verdacht, dass diese einmalige Behandlung auf die jüdische Identität des Staates und antisemitische Obsession zurückgeht, hat eine große Prima-Facie-Plausibilität. Eine ganze Reihe von Argumenten für die Plausibilität dieser These, hat David Hirsh zusammengetragen.

Allerdings gibt es durchaus Gegenargumente, die zu würdigen sind.

Erstens ist schwierig, diesen Nachweis zu führen, wenn es um Individuen geht. Ein Individuum, das Ungerechtigkeiten kritisieren möchte, hat gar keine andere Wahl, als sich auf ein bestimmtes Themenfeld zu konzentrieren. Die einen konzentrieren sich auf das Grenzregime der EU, die anderen auf die Verbrechen der syrischen oder iranischen Regierung und wieder andere eben auf Israels Menschenrechtsverletzungen – es kann gar nicht anders sein. Keine dieser individuellen Entscheidungen ist in Gänze rational begründbar, es bleibt immer ein deutlicher Anteil von Willkür. Ein individueller Fokus auf Israel ist deshalb nicht ohne Weiteres als antisemitische Obsession auszuweisen.

Geht es um größere diskursive und politische Zusammenhänge wie BDS, ist es leichter zu argumentieren, dass eine einseitige Fixierung und Verzerrung vorliegt, die anders als durch Antisemitismus kaum zu erklären ist. Eine einzelne Person kann immer Individualität als Grund für eine besondere Schwerpunktsetzung geltend machen. Wenn aber hunderttausende Menschen überall auf dieser Welt dieselbe rational nicht erklärbare Schwerpunktsetzung teilen, muss man von einer ideologischen Formation ausgehen, die die individuellen Prozesse prägt. Dann wiederum kann man von den Individuen verlangen, diesen ideologischen Kontext in ihrer eigenen Schwerpunktsetzung und Praxis zu reflektieren – wenn weltweit eine negative Fokussierung auf Israel vorliegt, die kaum anders als durch antisemitische Obsessionen zu erklären ist, kann es keine unschuldige Fokussierung auf Israels Politik mehr geben, die sich nicht antisemitismuskritisch zu diesen Obsessionen verhält – solche kritische Reflexion sucht man im Kontext von BDS meist vergeblich.

Zudem kann es zweitens auch spezifische Gründe geben, warum sich Personen mit einem bestimmten Hintergrund schwerpunktmäßig mit bestimmten Ungerechtigkeiten beschäftigen. Eine Palästinenser_in im Westjordanland, deren Alltag von Begegnungen mit israelischen Sicherheitskräften geprägt ist, kann rationale Gründe dafür geltend machen, dass sie deren Handeln in den Fokus ihrer Kritik (und ihrer widerständigen Praxis) stellt. Andersherum können auch Jüd_innen einen solchen Fokus gut begründen: So gibt es immer gute Gründe, die Probleme des eigenen Staates zu fokussieren. Diese rationale Grundlage für einen Fokus auf Israel können nicht nur für Israelis beanspruchen, sondern auch Jüd_innen in anderen Teilen der Welt – denn schließlich beansprucht Israel nicht nur symbolisch, nationale Heimstätte des jüdischen Volkes zu sein, sondern gewährt ihnen auch die Möglichkeit, die israelische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Dass nichtjüdische Deutsche (mich eingeschlossen) sich mit Israel intensiver als mit anderen Ländern beschäftigen, ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ebenfalls wenig überraschend und begründbar – der oftmals formulierte Anspruch, „gerade wir als Deutsche“ hätten einen besonderen Erziehungsauftrag gegenüber Israel, ist dagegen kaum rational zu begründen. Amerikaner_innen können einen Fokus auf Israel damit begründen, dass ihr Staat der wichtigste Bündnispartner Israels ist und seine Politik effektiv unterstützt – während er andere Menschenrechtsverletzer wie Iran staatlich sanktioniert. Brit_innen können mit der historischen Rolle argumentieren, die das British Empire in der Gründungsgeschichte Israels spielte. Angesichts dieser besonderen Grundlagen ist es kein Zufall, dass BDS in den USA und Großbritannien besonders stark ist und in den USA von einigen prominenten linken Jüd_innen unterstützt wird.

Jedoch können diese besonderen Gründe, mit denen sich ein besonderer Fokus auf Israel rechtfertigen lässt, weder die weltweiten Erfolg von BDS noch das Ausmaß der Unterstützung in USA und UK hinreichend erklären: Wendeten US-amerikanische Intellektuelle die an Israel angelegten Maßstäbe halbwegs konsistent an, könnten sie auch an der Politik der eigenen Regierung genug zu kritisieren finden, sodass US-amerikanische Fachverbände einen guten Grund hätten, sich erst einmal selbst zu boykottieren; britische Aktivist_innen könnten die kolonialhistorische Verantwortung ihres Landes auch am Beispiel Indiens, Pakistans oder Australiens diskutieren. Saudi-Arabien ist ebenfalls ein Bündnispartner des Westens, die Türkei im Gegensatz zu Israel sogar ein NATO-Mitglied usw. usf.

Abbildung 1: Wer unterstützt warum BDS?

Insofern kann man auch nach Berücksichtigung dieser Faktoren noch immer eine Fokussierung auf Israel feststellen, die in ihrer Gesamtheit irrational überschießend ist und kaum anders als durch die Existenz antijüdischer Obsessionen zu erklären ist. Wieder kann man von den Subjekten verlangen, diesen antisemitischen Kontext zu sehen, zu reflektieren und ihr eigenes Handeln entsprechend anzupassen – auch dann wenn sie für sich selbst besondere Gründe für einen entsprechenden Fokus geltend machen können.

Drittens schließlich kann ein besonderer Fokus auf Israel damit gerechtfertigt werden, dass dieser Staat in mancher Hinsicht tatsächlich einzigartig ist: Israel wurde erst 1948 gegründet. Damit fanden die mit Staatsgründungen fast immer einhergehenden gewaltsamen Prozesse von Behauptung, Abgrenzung und Homogenisierung nicht nur Jahrzehnte nach denen in den meisten europäischen Staaten statt und sind uns entsprechend zeitlich näher, sie fielen auch in eine Zeit, in der menschenrechliche Normen sich gerade stärker etablierten und Gewalt ein größerer Skandal wurde.

Zudem war die Gründung Israels wie so viele Staatsgründungen dieser Zeit zwar durchaus selbst post- und antikolonial – man erstritt sich seine Unabhängigkeit von Großbritannien. Jedoch war die Bevölkerung, von der und für die dieser Staat gegründet wurde, mehrheitlich in den Jahren und Jahrzehnten zuvor eingewandert, zu großen Teilen aus Europa. Auch wenn diese Migration in erster Linie eine Flucht vor antisemitischer Diskriminierung und Gewalt war, unterscheidet dieser Sachverhalt Israel deutlich von den meisten anderen zu dieser Zeit gegründeten postkolonialen Staaten. Israel ist auch der einzige dieser Staaten, der bis heute eine relativ deutlich westliche Identität hat. Die Tatsache, dass viele antikoloniale Akteur_innen Israel ablehnend bis feindlich gegenüberstehen ist nicht nur durch Antisemitismus, sondern auch durch diese Besonderheit zu erklären. Der Hass auf israelische Jüd_innen im Nahen Osten entspricht in Teilen dem Hass auf Pieds-noir in Algerien.

Schließlich sind auch der völkerrechtliche Zustand und der Lebensalltag in Westjordanland und Gazastreifen tatsächlich einigermaßen einmalig. Zwar gibt es auch in anderen Teilen der Welt umstrittene Gebiete, auf die mehrere Staaten Anspruch erheben, sowie Gebiete, in denen bestimmte Gruppen Autonomie beanspruchen. Aber die Form der Institutionalisierung gerade in der Westbank ist doch beispiellos.

Nun stellt sich die Frage: Können diese drei Weisen, auf die Israel einmalig ist, gemeinsam mit den zuvor genannten besonderen Gründen, die verschiedene Gruppen für einen Fokus auf Israel anführen können, die Einmaligkeit der BDS-Kampagne hinreichend erklären? Meines Erachtens ist das nicht der Fall. Israel mag in vieler Hinsicht einmalig sein. Aber weder die spezifische Form der Gründungsgeschichte vor 70 Jahren noch die Situation in West Bank und Gaza machen es zu einem einmalig schlimmen Menschenrechtsverletzer.

Abbildung 2: Erklärungen für den Erfolg von BDS

Die Einmaligkeit einer Kampagne, die eine ganze Gesellschaft in Haftung nimmt und isoliert, könnte aber letztlich nur durch ein einmaliges Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen begründet werden, das so einfach nicht vorliegt. Es ist am Ende rational kaum rechtfertigbar, einerseits Wein aus dem Golan zu boykottieren, aber andererseits Elektrogeräte zu kaufen, in denen unter hohem Blutzoll gewonnene seltene Erden verbaut sind und die von chinesischen Arbeiter_innen zusammengesetzt werden, deren Arbeitnehmer_innenrechte, individuelle Freiheitsrechte und demokratische Mitbestimmungsrechte weitaus geringer ausfallen als die palästinensischer Arbeiter_innen in israelischen Produktionsstätten in der Westbank. Auch dieser Vergleich ist kein Whataboutism, sondern eine Konsistenzprüfung.

Schließlich lässt sich das irrational-überschießende Element der Fokussierung auf Israel auch duch ständig wiederkehrende Verzerrungen in der Darstellung der Realität aufzeigen – dass BDS in diesem Sinne verzerrend argumentiert habe ich im ersten Teil der Serie erläutert.

Die Existenz und der relative Erfolg von BDS ist insgesamt nur dadurch zu erklären, dass es in verschiedenen Gesellschaften eine rational nicht begründbare negative Fixierung auf Israel gibt. Diese negative Fokussierung ist nicht allein auf Antisemitismus zurückzuführen, aber in ihrer Gänze ohne Antisemitismus auch nicht zu erklären. Auch wenn nicht allen Unterstützer_innen eine antisemitische Motivation unterstellt werden kann, ist damit BDS insgesamt doch als antisemitisch ausgewiesen.

Argumentation 2: Die Reproduktion antisemitischer Weltdeutungen in der „Israelkritik“ von BDS

In der zweiten Argumentationsstrategie geht es darum zu zeigen, dass sich in der entsprechenden Israelkritik Elemente des antisemitischen Weltbildes verdichten. Diese Argumentationsstrategie läuft auf den entsprechenden Punkt der IHRA-Definition sowie auf bestimmte Formen der Dämonisierung hinaus.

Solche Verdichtungen finden sich in den verschiedensten „israelkritischen“ Kontexten – von der Brunnenvergiftung über das Blutriutual bis zur die Welt beherrschenden Verschwörung gibt es kaum ein antisemitisches Motiv, das nicht auch regelmäßig auf Israel bezogen würde. Ebenfalls regelmäßig taucht die Vorstellung auf, Israel sei das zentrale Hindernis für den Weltfrieden.

Im Kontext von BDS treten solche antisemitischen Deutungen insbesondere in der Form auf, dass Handlungen, die alle Staaten vollziehen, im Fall von Israel regelmäßig als sinistre, manipulative Ränkespiele gedeutet werden. Ein Beispiel hierfür waren die Argumente, mit denen für einen Boykott der Berliner Pop-Kultur 2017 geworben wurde. Die Grundlage für diesen Boykottaufruf war letztlich, dass die israelische Botschaft 500 € Reisekostenzuschuss für Künstler_innen zahlte und entsprechend mit Logo auf der Unterstützer_innenliste auftauchte. Viele Staaten der Welt haben entsprechende Programme zur Förderung von Kunst und kulturellem Austausch; nur weniger Künstler_innen, die auf das Geld angewiesen sind, wehren sich gegen solche Förderung. Wenn aber Israel das tut, was alle tun, werden ihm besonders hinterlistige Absichten unterstellt. Dabei wurde argumentiert, Israel wolle mit solchen Aktionen von der Besatzungspolitik ablenken – ich weigere mich, ernsthaft dagegen anzuargumentieren, dass 500 € Kulturförderung mit der Absicht vergeben werden, von Vorgängen abzulenken, die regelmäßig die internationalen Schlagzeilen dominieren. Zudem wurde von BDS-Seite wahrheitswidrig und wiederum absurderweise behauptet, Israel habe versucht, Einfluss auf das Programm des Festivals zu nehmen – auch hier erübrigt sich eine Argumentation gegen die bizarre Idee, 500 € könnten dazu dienen, ernsthaften Einfluss zu erkaufen.

Derartige Deutungen, die auch in Diskussionen um „Pinkwashing“ immer wieder auftauchen, sind aber nicht nur absurd, sie verweisen auch darauf, dass israelisches Handeln mit antisemitischen Stereotypen gedeutet wird: Kulturförderung gilt hier als sinistre Strippenzieherei.

Argumentation 3: BDS als antisemitische Struktur

In der dritten Argumentationsstrategie geht es darum zu zeigen, dass die fragliche „Israelkritik“ an einer Struktur partizipiert, welche die Lebenschancen von Jüd_innen als Jüd_innen verschlechtert.

Bei dieser Argumentation ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die nationale Selbstbestimmung des jüdischen Volkes als Institution zum Schutz von Jüd_innen vor Antisemitismus gegründet wurde. Ein potenzielles Ende dieser Selbstbestimmung kann vor dem Hintergrund des fortbestehenden Antisemitismus als Verschlechterung der Lebenschancen von Jüd_innen gelten. Entsprechend können Aktivitäten, die auf das Ende Israels als Staat hinwirken in diesem Sinne als antisemitisch gelten. Weil diese Argumentation nicht auf die subjektiven Motivationen, sondern auf die objektive gesellschaftliche Struktur zielt, kommt es dabei nicht darauf an, ob die entsprechend Handelnden Jüd_innen wirklich schaden wollen – es reicht, dass sie es tun. Dieser Begründungszusammenhang führt dazu, dass die Delegitimierung der nationalen Selbstbestimmung als antisemitisch gilt.

Dass BDS auf eine Delegitimierung der nationalen Selbstbestimmung des jüdischen Volkes zielt, habe ich im ersten Teil dieser Serie dargelegt – und viele BDS-Aktivist_innen bekennen sich auch offen dazu, sodass es hier keiner größeren hermeneutischen Anstrengungen bedürfte.

Diese Argumentation ist freilich auf die Annahme angewiesen, dass die Existenz Israels die Lebenschancen von Jüd_innen als Jüd_innen wirklich verbessert und diese vor Antisemitismus schützt. Immer wieder vorgebrachte Gegenargumente lauten, dass Israel genau dies nicht leiste (mithin beansprucht „Israelkritik“ gar, Jüd_innen vor der verfehlten Politik der israelischen Regierung zu schützen, die Antisemitismus erst verursache) oder dass ein solchen Schutz heute gar nicht mehr nötig sei. Beide Argumente scheinen mir aber verfehlt – insbesondere angesichts des gegenwärtigen Antisemitismus in Europa, der sich nicht zuletzt in einer Serie dezidiert antisemitischer Massaker (Toulouse, Burgas, Brüssel, Paris) ausdrückte.

Noch einmal: Die BDS-Kampagne ist antisemitisch, aber nicht alle BDS-Unterstützer_innen sind Antisemit_innen

Wie ich hier skizziert habe, lassen sich in allen drei Argumentationsstrategien plausible Argumente dafür finden, dass die BDS-Kampagne antisemitisch ist: Sie ist durch eine rational nicht begründbare (negative) Fixierung auf Israel gekennzeichnet, sie ist durch die Reproduktion von Elementen des antisemitischen Weltbildes geprägt und sie verschlechtert durch die Delegitimierung der nationalen Selbstbestimmung des jüdischen Volkes effektiv die Lebenschancen von Jüd_innen als Jüd_innen.

Dass die Kampagne in ihrer Gesamtheit als antisemitisch zu bezeichnen ist, heißt jedoch nicht, dass auch alle Unterstützer_innen individuell antisemitisch motiviert sind oder gar als Antisemit_innen bezeichnet werden sollten. Die Motivationslage der Unterstützer_innen variiert ebenso wie ihre Reflektiertheit stark – einige sind Gesinnungstäter_innen, anderen fehlt vor allem die Reflexion des antisemitischen Kontexts, wieder andere mögen in einem aufrichtigen Engagement für Menschenrechte einfach nur schlecht informiert oder naiv sein.

Aber auch für die Personen, die einzelne antisemitische Denkmuster im Kopf haben und sie äußern, sollte das Wort “Antisemit_in”  nicht leichtfertig verwendet werden; vielmehr sollte es für diejenigen reserviert bleiben, bei denen sich Antisemitismus manifest verdichtet – alles andere ist nicht sachlich und trägt nur zur weiteren moralischen Überhitzung der Debatten bei.

 

Anmerkungen

[1] Wenn der Vorwurf des Antisemitismus erhoben wird, führt dies insbesondere in Deutschland regelmäßig dazu, dass die als antisemitisch ausgewiesenen Haltungen und Handlungen in den Hintergrund rücken und stattdessen der Antisemitismusvorwurf selbst zum Skandal wird und ins Zentrum der Diskussion rückt: Darf man das wirklich antisemitisch nennen oder muss man das nicht noch sagen können dürfen, ohne sich diesen schlimmen Vorwurf gefallen lassen zu müssen? Und ist die Bezeichnung „antisemitisch“ nicht eine ungerechte Ehrverletzung derjenigen, denen da Antisemitismus vorgeworfen wird? Ähnliche Muster gibt es auch in Bezug auf Rassismus und Sexismus, aber beim Antisemitismus spitzt sich die Dynamik meist schneller zu. Paradigmatisch sind die Fälle von Jürgen Elsässer und Xavier Naidoo, die sich gerichtlich bescheinigen ließen, dass man sie unter Strafandrohung nicht als (glühende) Antisemiten bezeichnen darf.
Diese diskursiven Muster sind leicht zu erklären: Der Begriff des Antisemitismus ist, besonders im Land der Täter_innen, in einem solchen Maße moralisch aufgeladen, dass gesellschaftsfähige Personen sich niemalsnicht damit in Verbindung gebracht sehen wollen. Diese moralische Überladung macht rationale Diskussionen über Antisemitismus fast unmöglich.
Nicht nur aus diesem Grund halte ich die Frage, ob die BDS-Kampagne und ihre Unterstützer_innen als antisemitisch zu bezeichnen sind, bestenfalls für die zweitwichtigste. Die viel wichtigere Frage ist, ob die politische Praxis von BDS das legitime und angemessene Engagement für Frieden und Menschenrechte ist, als das es daherkommt – und diese Frage habe ich im ersten Teil dieser Serie mit nein beantwortet: BDS ist klar eine einseitig israelfeindliche Kampagne, deren Forderungen und Praxis keine Perspektive auf Frieden bieten.
Jedoch ist die Frage nach Antisemitismus auch nicht hinfällig und dies aus zwei Gründen: Erstens bleibt Antisemitismus ein virulentes Problem moderner Gesellschaften, das nicht verschwiegen werden sollte, nur weil seine Thematisierung zu irrationalen Abwehrreaktionen führt. Zweitens lässt sich die Frage ohnehin nicht vermeiden: Sobald die Angemessenheit irgendwelcher „israelkritischer“ Äußerungen in Frage gestellt wird, steht das Thema Antisemitismus ohnehin als Elefant im Raum und wird von der einen oder anderen Seite auch aufgerufen – nicht selten wehren kritisierte „Israelkritiker_innen“ vehement den Vorwurf ab, Antisemit_innen zu sein, auch wenn ihn gerade niemand erhoben hat.

[2] Ich verwende das Wort „Israelkritik“ (ebenso wie das Wort „Islamkritik“) nur in distanzierenden Anführungszeichen, weil ich nicht einsehe, dass Kritik an der israelischen Politik so besonders ein sollte, dass sie eines eigenen Wortes bedürfte – zumindest nicht, solange es nicht auch Albanienkritik und Nicaraguakritik gibt. Jedoch wird das Wort von denjenigen, die Israel (häufig obsessiv) kritisieren immer wieder als Bezeichnung ihres Tuns verwendet – diese Selbstbezeichnung nehme ich hier auf.

[3] S. Fußnote 1.