Mit Boykotteur_innen umgehen. Ein Leitfaden. Teil 3 von 3 einer Mini-Serie über die israelfeindliche BDS-Kampagne

Im abschließenden dritten Teil dieser Miniserie (Teil 1, Teil 2) diskutiere ich die Frage, wie man mit der BDS-Kampagne und ihren Unterstützer_innen umgehen sollte. Dabei plädiere ich für eine klare inhaltliche Positionierung gegen BDS und für eine Unterbindung von BDS-Propaganda, aber gegen die Idee eines umfassenden Gegenboykotts aller BDS-Unterstützer_innen.

(Link zu allen drei Teilen in einer PDF, Layout: druckkollektiv unterdruck)

1. Man muss einen Umgang finden, denn das Thema lässt sich nicht wegignorieren

Die Vorgänge um die Berliner Pop-Kultur 2017 und 2018, den abgesagten Auftritt von Kate Tempest, die Tour von Roger Waters und die Ruhrtriennale unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, aber gemeinsam zeigen sie doch eines: Gerade im Kulturbereich kann man BDS aktuell nicht ausweichen, indem man es ignoriert, man muss sich dazu verhalten.

Dies ist einerseits der binären Logik der Boykottstrategie selbst geschuldet: Sie stellt, wie bei der Pop-Kultur 2017 und 2018 gezeigt, letztlich alle vor die Wahl, entweder mitzuboykottieren oder selbst boykottiert zu werden. Andererseits ist die Unvermeidbarkeit eines bewussten Umgangs mit BDS gerade in Deutschland auch auf das Skandalisierungspotenzial von Antisemitismusvorwürfen zurückzuführen: Bei der Ruhrtriennale brach der konkrete Konflikt nicht dadurch aus, dass BDS-Unterstützer_innen Druck aufbauten, sondern dadurch, dass es lautstarke Kritik am Auftritt der Young Fathers gab, die BDS nicht nur formal unterstützen, sondern im Kontextder Pop-Kultur 2017 öffentlich als Boykotteure auftraten.

Dabei ist die Unterstützung für BDS gerade unter britischen Künstler_innen so verbreitet, dass man sich vor dem Hintergrund dieser binären Logik und dieses Skandalisierungspotezials gar nicht nicht dazu verhalten kann.

2. Man muss das Problem verstehen, um damit umgehen zu können

Will man einen halbwegs angemessenen Umgang mit BDS finden, muss man den Problemkomplex einigermaßen verstehen. Dies zeigen die Streitigkeiten um die diesjährige Ruhrtriennale im Negativen:

Es ist kaum zu glauben, dass die Organisator_innen eines Kunstfestivals im Ruhrgebiet 2018 nicht wussten, dass eine von ihnen eingeladene Band 2017 bei einem Festival in Berlin einen Skandal verursachte, der quer durch die Feuilletons ging. Ebenso wenig ist zu glauben, dass man sich in den Konflikt um diese Einladung begibt, ohne sich damit auseinandergesetzt zu haben, was die BDS-Kampagne ist und warum ihr Antisemitismus vorgeworfen wird. Auf genau solches Unwissen in beiden Punkten weist das hektische und inkohärente Handeln der Organisator_innen aber hin.

Man hätte die Band ja trotz des ihres BDS-Engagements einladen können – wie im zweiten Teil dieser Serie geschrieben, sind nicht alle BDS-Unterstützer_innen Antisemit_innen, und wie ich unten darlege, ist ein Boykott des Boykotts auch kein Ausweg. Wenn man sich für eine solche Einladung entscheidet, sollte man es aber bewusst tun, diese Entscheidung begründen können und wenigstens ein paar Momente zu ihr stehen – und nicht nach den ersten absolut erwartbaren Antisemitismusvorwürfen öffentlich eine Ausladung verkünden.

Und man kann nach begründeten Antisemitismusvorwürfen eine Ausladung aussprechen. Aber wenn man sich für eine Ausladung entscheidet, dann sollte man diese doch nicht zurückziehen, nur weil diejenigen, denen die Vorwürfe gemacht wurden, sagen, dass sie gegen Antisemitismus sind – ohne dabei die Positionen zurückzunehmen, aufgrund derer ihnen die Vorwürfe gemacht wurden. Tut man es doch, macht man klar, dass man weder verstanden hat, warum BDS Antisemitismus vorgeworfen wird, noch, wie Antisemitismus nach 1945 funktioniert: Ein Bekenntnis gegen Antisemitismus beweist nicht die Abwesenheit von Antisemitismus.

Und schließlich könnte man all diese Wirrungen im Rahmen einer Podiumsdiskussion aufarbeiten und diskutieren. Aber wenn man eine Podiumsdiskussion plant, sollte man doch auf eine halbwegs ausgewogene Besetzung des Podiums achten und sich nicht vom Thema abbringen lassen, indem man ein überwiegend BDS-freundliches Podium über Kunstfreiheit diskutieren lässt.

Bottom Line: Wenn man den Organisator_innen der Ruhrtriennale nicht unterstellen möchte, dass sie sich all diese Fettnäpfchen absichtlich selbst in den Weg gestellt haben, um dann vom einen in den nächsten zu springen, ist ihr Beispiel eine Mahnung: Wer heute im Kulturbetrieb aktiv ist, sollte sowohl BDS selbst als auch die Debatten rund um BDS kennen – wer dies nicht tut, wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit blamieren.

3. Auch wenn man das Problem verstanden hat, muss damit leben, dass es kein Patentrezept gibt

Es wäre für Organisator_innen von Kulturveranstaltungen sicherlich angenehm, wenn es ein Patentrezept gäbe, mit der sich das Problem lösen oder vermeiden ließe. Aber die oben erwähnten Faktoren – die binäre Logik von BDS, das Skandalisierungspotenzial von Antisemitismusvorwürfen und die Verbreitung von BDS-Unterstützung insbesondere in Großbritannien – machen dies unmöglich. Es wird keinen Umgang mit BDS geben, der nicht zu Konflikt, Streit, Unzufriedenheit, Beschimpfungen und Rücktrittsforderungen von der einen oder anderen Seite führt. Damit muss man bis auf weiteres leben.

4. Man darf sich von BDS nicht erpressen lassen

Weil BDS die Organisator_innen von Kulturveranstaltungen zugespitzt formuliert vor die Wahl stellt, entweder britische oder israelische Künstler_innen außen vor zu lassen – die ersteren unterstützen zu großen Teilen BDS, die letzteren sind zumindest potenziell ein Ziel von Boykottaktionen –, dürfte die Verlockung beträchtlich sein, sich diesem Druck einfach stillschweigend zu beugen. Es gibt im Verhältnis so viele britische und so wenige israelische Künstler_innen von Rang und Namen, dass es rein instrumentell-kuratorisch wohl bequemer wäre, das Problem zu vermeiden, indem man unausgesprochenen mitboykottiert. Nach allem in den ersten beiden Teilen Geschriebenen sollte jedoch klar sein, dass eine solche Entscheidung bequem sein mag, aber moralisch und politisch nicht zu rechtfertigen ist. So ist es erfreulich, dass sich die Kuratorin der Berliner Pop-Kultur Katja Lucker dieses Jahr erneut in den Konflikt begab, indem sie eine Reisekostenförderung von der israelischen Botschaft an- und die entsprechenden Boykottaufrufe in Kauf nahm. Ebenso erfreulich ist, dass sie dabei kulturpolitische Rückendeckung erhält.

Entsprechend ist es wichtig, dass Hinweise auf solches stillschweigendes Sich-Einfügen antisemitismuskritisch skandalisiert werden.

5. Man sollte der BDS-Propaganda keine Plattform bieten

Die BDS-Kampagne ist israelfeindlich und antisemitisch, daher sollte man keine Plattform für ihre Propaganda bieten. Es ist zu begrüßen, dass mehrere deutsche Städte beschlossen haben, keine Räume für BDS-Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Auch bei Künstler_innen, die immer wieder als BDS-Leitfiguren auftreten und die sich selbst als das Gesicht dieser Kampagne präsentieren, ist damit zu rechnen, dass ihre Auftritte zu Propagandaveranstaltungen werden – daher ist es ebenfalls zu begrüßen, dass die öffentlich-rechtlichen Medien ihre Unterstützung für die Tour von Roger Waters zurückgezogen haben.

Dies gilt im Kunst- und Kulturbereich in besonderer Weise. Man sollte die progressiven politischen Potenziale dieser Sphäre nicht naiv überschätzen und überlasten, aber sie kann doch einen Raum bieten, in dem soziale und politische Konflikte be- und verarbeitet werden. Boykottpolitiken wie die von BDS tragen aktiv zur Schließung dieses Raumes bei. Dabei sollte man sie nicht unterstützen.

Derartige „no platforming“-Politiken sind immer heikel und müssen gut begründet sein.  Im Falle von BDS ist das leicht zu argumentieren, solange in den entsprechenden Institutionen Regeln gegen Inhalte gelten, die diskriminierend sind oder sich „gegen Völkerverständigung“ richten. In Frankreich konnte BDS bislang kaum Fuß fassen, weil es schon früh juristisch als rechtswidrige Diskriminierung aufgrund von Staatsangehörigkeit beurteilt wurde. Besser als ein solches staatliches Verbot ist aber die bewusste und öffentlich begründete Entscheidung staatlicher und zivilgesellschaftlicher Einrichtungen, diesen Inhalten keinen Raum zu bieten.

6. Man muss einsehen, dass Politik Konflikt bedeutet – und nicht moralische Selbstvergewisserung

Kunst will oft politisch engagiert sein – und das ist gut so. Weniger gut ist, wenn sich dieses politische Engagement als moralisches Engagement missversteht.

Oft basiert politisch engagierte Kunst auf einem moralisch stark aufgeladenem Verständnis von Politik: Sie will öffentlich für das Gute, für Menschenrechte, Gleichheit, Frieden und Toleranz, aber gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Herrschaft, Krieg und Engstirnigkeit Stellung beziehen, indem sie der Macht mit aller Konsequenz die Wahrheit ins Gesicht sagt.

Auch das ist abstrakt gesprochen zu begrüßen. Jedoch muss dabei auch klar sein, dass Politik immer konflikthaft bleibt und sich in diesen Konflikten in der Regel keine klaren moralischen Gegensätze von Gut und Böse gegenüberstehen. Die meisten politischen Konflikte bestehen nicht zwischen Akteur_innen, die Gutes wollen, auf der einen, und Akteur_innen, die Böses wollen, auf der anderen Seite. Sie bestehen zwischen Akteur_innen, die allesamt das wollen, was sie für das Gute und Gerechte halten, die aber aufgrund von materiellen Interessendifferenzen und unterschiedlichen Verständnissen vom Guten in Konflikt geraten: Dann schließt sich das, was die einen für gut und gerecht halten, mit dem, was die anderen für gut und gerecht halten, wechselseitig aus, lässt sich nicht zugleich realisieren.

Wer diesen grundsätzlich konflikthaften Charakter von Politik nicht sieht und das eigene politische Engagement mit einem moralischen Engagement für das schlechthin Gute gegen das schlechthin Böse verwechselt, wird von den in politischen Kontexten unvermeidbar auftretenden Konflikten immer überrascht und überfordert sein. Mehr noch: Wer die eigene Politik als Moral betreibt, wird immer empört reagieren, wenn das eigene Engagement auf Kritik und Gegenwehr stößt, und darüber hinaus dazu neigen, auf der Gegenseite böse Absicht zu vermuten.

So kann man getrost davon ausgehen, dass die meisten BDS-Aktivist_innen ihr eigenes Engagement in erster Linie als eines für das durch und durch hehre Ziel von uneingeschränkten Menschenrechten für die palästinensische Bevölkerung in West Bank, Gaza und anderswo verstehen, die durch Israel systematisch verletzt würden. Wenn dieses Engagement dann auf scharfe Kritik stößt, bleiben dem selbstsicher-moralistischen Politikverständnis nur zwei Interpretatioen: Entweder liegt bei der Gegenseite ein ignorantes Missverständnis vor oder aber Böswilligkeit; im Zweifel muss die Gegenseite wohl gegen Menschenrechte für Palästinenser_innen sein.

Jedoch sind die BDS-Unterstützer_innen mit dieser Ineinssetzung von Politik und Moral keinesfalls alleine. Auch einige BDS-Gegner_innen gehen allzu schnell und bequem davon aus, dass BDS-Unterstützer_innen insgesamt von Antisemitismus getrieben sind – bis hin zur der maximal-moralistischen Zuschreibung, sie setzten die Politik des Nationalsozialismus fort.

Schließlich wirken auch einige der Akteur_innen, die als Organisator_innen Raum für politische Kunst bieten wollen, allzu überrascht und empört, wenn diese Politik auf einmal in Konflikt und Streit mündet – anstatt in eifrigem wechselseitigen Schulterklopfen dafür, wie kritisch und politisch engagiert man doch ist.

Real ist in politischen Konflikten meist davon auszugehen, dass auf beiden Seiten legitime Anliegen bestehen. Es geht mir hier nicht darum, in diesen Begriffen den Nahostkonflikt zu erklären (über den es ohnehin schon zu viele Erklärungen gibt), aber so viel sei doch gesagt: Ein sicheres Leben der israelischen Bevölkerung ist ein erstrebenswertes Ziel; der volle Schutz der Menschenrechte von Palästinenser_innen in West Bank und Gaza ist dies ebenfalls. Doch stehen beide Ziele in deutlicher Spannung, lassen sich aktuell nicht gleichzeitig in Gänze realisieren: Es ist beileibe nicht so, dass die israelische Sicherheitspolitik die einzige oder hauptsächliche Ursache von Menschenrechtsverletzungen in West Bank und Gaza wäre – palästinensischer Akteur_innen und ihre internationalen Unterstützer_innen sind hierfür zentral verantwortlich; jedoch leistet sowohl die Blockadepolitik gegenüber Gaza als auch die Sicherheitspolitik in der West Bank einen Beitrag zu den realen Einschränkungen, denen die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. Andersherum ist es beileibe nicht so, dass diese politischen Maßnahmen allein der Sicherheit der israelischen Bevölkerung dienten – gerade in der West Bank spielen auch andere, nationalistische Motive eine Rolle. Jedoch wäre ein Mindestmaß an Sicherheit für die israelische Bevölkerung ohne militärische Maßnahmen, die auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung gehen, in den letzten Jahren nicht zu erreichen gewesen; zudem hätte sich die politische Landschaft Israels ohne den Terror kaum in die aktuelle Richtung entwickelt.

Es geht hier nicht darum den Nahostkonflikt klären, sondern lediglich darum, einen Schritt zurücktreten und eine andere Perspektive auf den Konflikt zwischen BDS-Unterstützer_innen und Gegner_innen einnehmen (einen Konflikt dessen Teil ich selbst bin): Man kann davon ausgehen, dass viele auf beiden Seiten ernsthaft hehre Motive haben. Man kann den meisten BDS-Unterstützer_innen glauben, dass es ihnen wirklich um die Menschenrechte von Palästinenser_innen insbesondere in West Bank und Gaza geht (und nicht um die Auslöschung Israels aus uneingestandener antisemitischer Missgunst gegenüber Jüd_innen). Man kann den meisten BDS-Gegner_innen glauben, dass es ihnen wirklich um ein sicheres Leben der israelischen Bevölkerung geht (und nicht um einen Kampf gegen die Menschenrechte von Palästinenser_innen aus uneingestandener rassistischer Missgunst gegenüber People of Colour).

Nimmt man eine solche Perspektive ein, ist politisch engagierte Kunst nicht einfach ein Engagement für Gerechtigkeit gegen Ungerechtigkeit, das der Macht die Wahrheit ins Gesicht spricht, sondern immer auch ein Kampf für ein konkretes Gutes und Gerechtes, das mit anderem Guten und Gerechten in Konflikt steht. Folgt man einem solchen konfliktualen Politikverständnis, muss man damit rechnen, dass man bei einer gut gemeinten politischen Stellungnahme harten Gegenwind erfährt; und man muss damit rechnen, dass die Gegner_innen gute moralische Gründe geltend machen können und nicht einfach als moralisch böse gelten dürfen.

Diese Perspektive läuft nicht auf Relativismus oder eine Politik ohne Moral hinaus. Politik im progressiven Sinne sollte nicht einfach nur das partikulare Eintreten für die eigenen Interessen auf Kosten anderer sein, sondern auf die Freiheit in Gleichheit aller zielen (die auch im wohlverstandenen Eigeninteresse liegen). Der Weg zu Freiheit und Gleichheit bleibt jedoch notwendig umstritten.

Ebenso wenig läuft diese Perspektive auf die naive Vorstellung hinaus, dass es irgendwie alle gut meinten und alle Katzen grau seien. Im Gegenteil steht außer Frage, dass es zynische Machtpolitik ebenso gibt wie Politik, die von Ressentiment und Macht getrieben ist. Derartige Politiken sind – auch moralisch – zu verurteilen. Aber nicht alle politischen Gegner_innen sind so zu erfassen.

Stattdessen läuft ein solches Politikverständnis vor allem darauf hinaus, dass das Auftreten von Streit und Konflikt nicht skandalöse, sondern begrüßenswert ist.

Exkurs: Warum ist BDS in Britannien so stark und in Deutschland so schwach?

Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass BDS in einigen Ländern besonders stark, in anderen besonders schwach ist, in einigen recht heftigen, in anderen fast keinen Gegenwind erfährt. Am deutlichsten ist der Kontrast wohl zwischen Großbritannien und Deutschland: In Großbritannien unterstützen große Teile der Linken in einem ganz weiten Sinne des Wortes BDS – sowohl solche, die in der Labour Party organisiert sind, als auch parteipolitisch nicht positionierte Künstler_innen, sowohl ganze Studierendenschaften und Belegschaften an Universitäten als auch Gewerkschaften und mithin gar ganze Kommunen.

In Deutschland dagegen ist BDS bislang eher ein Randphänomen geblieben, das auf einige traditionslinke oder friedensbewegte Gruppen aus der traditionellen Palästinasolidarität, auf palästinensische Organisationen sowie insbesondere in Berlin auf politische Milieus mit internationaler Anbindung (z.B. einige linke israelische Expats oder POC-Gruppen) begrenzt bleibt. Für größeres Aufsehen außerhalb linker Zusammenhänge sorgen in Deutschland insbesondere britische Künstler_innen.

Wollte man die Ursachen für diese ungleiche und kombinierte Entwicklung gründlich herausarbeiten, müsste man für beide Länder detailliert die linken Diskurse der letzten Jahrzehnt nachzeichnen.[1] Die groben Linien sind jedoch schnell skizziert: Die große Negativfolie, vor der politische Prozesse gedeutet werden, ist in der deutschen Linken der Nationalsozialismus, in der britischen Linken der Kolonialismus, insbesondere der des British Empire. Deutet man den Nahostkonflikt allein vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, sieht man den Staat der Holocaustüberlebenden, der gegen immer neue antisemitische Feinde um seine Existenz kämpft. Nimmt man dagegen eine rein antikoloniale Perspektive ein, sieht man in Israel einen unter imperialen Bedingungen von Europäer_innen gegründeten Staat, der auf Kosten der indigenen Bevölkerung existiert. Aus der einen Sicht will man vieles sein, aber bloß nicht antisemitisch; aus der anderen Sicht will man vieles sein, aber bloß nicht kolonialrassistisch.

Wieder geht es nicht darum, beide Perspektiven relativistisch nebeneinanderzustellen. Auch ohne Relativismus kann man aber festhalten, dass es allzu bequem wäre, BDS-Unterstützung einfach als Gradmesser für Antisemitismus zu nehmen und dann aus deutscher Perspektive zu dem Schluss zu kommen, dass die britische Kulturszene viel antisemitischer sei als die deutsche.

Es ist weder davon auszugehen, dass Antisemitismus die einzige Ursache für die starke Unterstützung für BDS in Britannien ist, noch kann man die Schwäche von BDS in Deutschland auf die Abwesenheit von Antisemitismus oder gar auf ein weit verbreitetes anti-antisemitisches Problembewusstsein zurückführen. Viel wichtiger dürfte die deutsche Angst sein, als antisemitisch zu gelten.

7. Etwas moralische Abrüstung täte gut

Es ist durchaus verständlich, dass manche sich von BDS an die nationalsozialistische „Kauft nicht beim Juden!“-Kampagne erinnert fühlen – insbesondere dann, wenn deutsche BDS-Gruppen durch Supermärkten und Drogerien ziehen, in den Regalen nach israelischen Produkten suchen und diese markieren, um sie letztlich aus dem Handel nehmen zu lassen. Jedoch ist ein nachvollziehbares Sich-erinnert-Fühlen noch kein hinreichendes Argument dafür, diese maximal moralisch aufgeladene Analogie immer wieder herbeizuzitieren.

Besonders fragwürdig wird es, wenn damit die Nachkommen deutscher Täter_innen kurzerhand die halbe Britische Linke, diverse jüdische Intellektuelle sowie zahlreiche israelische Aktivist_innen en passant zu Wiedergängern der Nazis erklären. Ein solcher Maximalismus ist nicht nur eine bequeme Entsorgung der deutschen Schuld, er ist auch in der Sache nicht gerechtfertigt, er ist abgeschmackt und er ist nicht hilfreich.

Ein weiterer Grund gegen diese Zuspitzung besteht darin, dass BDS zwar de facto auf eine Ende Israels zielt, die reale von dieser Kampagne ausgehende Gefahr für den israelischen Staat aber doch sehr überschaubar ist. So ziemlich alles an BDS ist falsch, aber Israels Existenz hängt zum Glück nicht von den Young Fathers oder Kate Tempest oder Judith Butler oder Omar Barghouti ab.

Man wird den Kampf gegen BDS nicht gewinnen, indem man die BDS-Unterstützer_innen assoziativ mit Nazis auf eine Stufe stellt. Im Gegenteil mach man es ihnen damit viel zu einfach, sich als Opfer zu inszenieren.

Auch die Heftigkeit und Dringlichkeit, mit der ein Rücktritt oder gar eine Kündigung der Ruhrtriennale-Intendantin Carp gefordert wird, scheinen eher hilflos-hektisch als überlegt. Der Skandal an der Ruhr ist hausgemacht, er ist unnötig und schlecht gehandhabt. Dass man aber die Intendantin eines Festivals in dieser Größenordnung über ein einziges Konzert stürzen sehen will, wirkt mehr als überzogen – und es drängt sich der Verdacht auf, es könnte etwas damit zu tun haben, dass Carp die erste Frau in dieser Position ist.

8. Man sollte sich nicht ablenken lassen: Die Kunst- und Redefreiheit der BDS-Unterstützer_innen steht nicht auf dem Spiel

Werden in Deutschland Antisemitismusvorwürfe erhoben, entfaltet sich immer die gleiche Dynamik: Diejenigen, denen Antisemitismus vorgeworfen wird, fühlen sich als Opfer, die mit bösartigen Unterstellungen mundtot gemacht werden sollen. Diese Karte spielen auch BDS-Unterstützer_innen

Aber es ist ganz leicht: Wenn Politik Kontroverse bedeutet, muss man damit leben, dass zugespitzte politische Positionierungen auf zugespitzte Zurückweisung stoßen. Man kann Pluralismus einfordern, aber jeder Pluralismus wird am Ende seine Grenzen haben. Wer so offen politische Feinderklärungen ausspricht wie BDS, darf sich nicht darüber wundern, wenn andere keinen Raum für diese Feinderklärungen bereitstellen wollen. Das ist keine Einschränkung der Rede- oder Kunstfreiheit, sondern Politik.

Dies gilt umso mehr, weil es bei BDS ja nicht nur um politische Meinungsäußerung geht, sondern um eine groß angelegte politische Kampagne, die einem Land Schaden zufügen will.

Tatsächlich weist die Empörung der BDS-Unterstützer_innen über Ausladungen darauf hin, dass einige sehr gerne von oben nach unten treten: Man hat kein Problem damit, einen in letzter Konsequenz auf die Nationalität bezogenen[2] Ausschluss anderer zu fordern, wenn man in der entsprechenden Machtposition ist. Sind die Kräfteverhältnisse dagegen umgekehrt und man wird selbst aufgrund dieser Ausschlussforderungen selbst irgendwo ausgeschlossen, soll das auf einmal ein Skandal und eine Einschränkung der Kunstfreiheit sein.

Die Rede von der Kunstfreiheit ist ein klassisches Ablenkungsmanöver – und genau an diesem Ablenkungsmanöver beteiligt sich die Ruhrtriennale, wenn sie anstelle des Young-Fathers-Konzerts eine Podiumsdiskussion ansetzt, in der Diskutant_innen, die BDS in ihrer Mehrheit freundlich gesonnen sind, über Kunstfreiheit diskutieren.

9. Ein Totalboykott des Boykotts ist moralisch rechtfertigbar, aber nicht sinnvoll

Daraus folgt, dass ein Gegenboykott gegen BDS-Unterstützer_innen moralisch durchaus rechtfertigbar ist: Wenn Künstler_innen ihre Unterstützung für eine so scharfe Kampagne wie BDS aussprechen, sind entsprechend scharfe Reaktionen gerechtfertigt. Wer andere aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit boykottiert, darf sich nicht darüber beschweren, für diese politische Positionierung boykottiert zu werden.

Einen allgemeinen Boykott aller BDS-Unterstützer_innen halte ich aber weder für praktikabel noch für klug.

Dies ist erstens der Fall, weil das fast ein Ende des kulturellen Austauschs zwischen Großbritannien und Deutschland bedeuten würde. Soll Laurie Penny in Deutschland nicht mehr über Geschlechterverhältnisse sprechen können? Sollten deutsche Radiosender keine Songs der entsprechenden Alben von Talking Heads und Roxy Music, gar keine von Sonic Youth mehr spielen, weil Brian Eno und Thurston Moore BDS unterstützen? Sollen Kinos und Fernsehsender keine Ken-Loach-Filme mehr zeigen? Sollten vielleicht auch Lionel Messi und die argentinische Fußballnationalmannschaft nicht mehr öffentlich-rechtlich übertragen werden? Soll Judith Butler nicht mehr unterrichtet werden? Sollen Buchhandlungen und Bibliotheken Henning Mankell aus dem Programm nehmen (okay, vielleicht keine schlechte Idee). Wäre damit ein Sieg gegen Antisemitismus errungen?

Somit würde ein Gegenboykott genau die Boykott-Logik von BDS reproduzieren, die Gift für öffentliche Diskussionen ist. Wer mit einem Gegenboykott reagiert, vermindert den dabei angerichteten Schaden nicht, sondern sorgt bestenfalls dafür, dass er größer, aber gleichmäßiger verteilt wird.

Weiterhin liefe eine solche Gegenboykottpolitik Gefahr, ein weiteres Kernproblem von BDS zu reproduzieren, nämlich die völlige Überschätzung der Bedeutung, die der Nahostkonflikt für die Weltlage hat. Wohl und Wehe der Menschheit entscheiden sich nicht in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten und es wäre gut, wenn die Debatten sich nicht immer nur um dieses Thema drehten. Wenn man nun alle Künstler_innen und Akademiker_innen, die irgendwann mal ihre Unterschrift unter eine BDS-Erklärung gesetzt haben, auslädt und das entsprechend kommuniziert, reproduziert man auch diese Logik und verschafft der Kampagne gratis Aufmerksamkeit.

Sinnvoller scheint es, die Entscheidung über eine Einladung von der Einschätzung abhängig zu machen, ob die entsprechende Veranstaltung eine BDS-Propagandaveranstaltung zu werden droht oder nicht – und nur weil eine Band eine BDS-Erklärung unterschrieben hat, heißt das nicht, dass sie bei ihren Konzerten ständig darüber redet.

Wer jedoch BDS-Künstler_innen einlädt muss immer auch damit rechnen, dass es aus nichtigen Gründen zu Boykottstreitereien kommt.

10. Wenn man Diskussionen führt, sollten es die richtigen sein[3]

Organisator_innen von Kulturveranstaltungen, die israelische Künstler_innen einladen und dafür Reisekostenzuschüsse israelischer Institutionen in Anspruch nehmen, sollten sich keinem besonderen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt fühlen. Wenn BDS-Unterstützer_innen diese Veranstaltungen boykottieren, kann man sie kaum aufhalten und schuldet ihnen keinerlei Rechtfertigung – auch nicht in Form einer Podiumsdiskussion. Im Gegenteil käme man der Logik von BDS viel zu sehr entgegen, wenn man nun jedes Kunstfestival durch eine Podiumsdiskussion mit „israelkritischem“ Anteil ergänzen müsste.

Dennoch können solche Diskussionen, wenn sie gut geplant, organisiert und moderiert sind, einen positiven Effekt haben.

Diejenigen, die diesen Text lesen, werden weder den Nahostkonflikt lösen noch den linken Antisemitismus überwinden noch die diesbezügliche Kluft zwischen der deutschen und britischen Linken zuschütten. Aber im besten Falle, kann man diese Konflikte doch so austragen, dass vermehrtes Bewusstsein für Antisemitismus geschaffen und die Diskussion am Leben gehalten wird – dies ist angesichts des Rigorismus von BDS kein geringes Ziel.

Dazu kann man beitragen, indem man Diskussionen über die Sache führt. Zu dieser Sache kann neben Antisemitismus auch die israelische Politik in West Bank und Gaza sowie ihre Kritik zählen – damit kann man zeigen, dass man sich anders als von BDS behauptet tatsächlich für Menschenrechte interessiert und wie wenig die BDS-Propaganda dem Gegenstand gerecht wird. Nicht sinnvoll dagegen sind Diskussionen über Ablenkungsthemen wie die angeblich bedrohte Kunstfreiheit von BDS-Unterstützer_innen.

 

 

Anmerkungen:

[1] Alexei Monroe hat in der taz einen guten Überblick über die Situation im Vereinigten Königreich gegeben. Seine Darstellung der Lage in Deutschland fällt dabei aber allzu grob aus – die angeblich bedingungslose Israel-Solidarität in Deutschland existiert in dieser Allgemeinheit sicher nicht.

[2] Zwar wird von BDS-Seite immer wieder betont, dass sich der Boykott nicht gegen Israelis als Individuen richtet. Jedoch werden an Israelis Forderungen erhoben, die sonst niemand erfüllen muss (ein Verzicht auf staatliche Kulturförderung, ein Bekenntnis gegen den eigenen Staat usw.), so dass unterm Strich eine Diskriminierung bleibt.

[3] Punkt 10 wurde am 19.8.2018 deutlich überarbeitet und erweitert.