Eine strukturschwache These. Oder: Warum es sich manchmal lohnt, Deutschlandkarten zu zerschneiden

Immer wieder liest und hört man, die AfD sei gerade “in strukturschwachen und abgehängten Regionen” insbesondere Ostdeutschlands stark – auch beim DVPW-Kongress in Frankfurt in der vergangenen Woche hörte ich die Formulierung mindestens zwei Mal. Bei genauerem Hinschauen erweist sich diese oft als selbstverständlich vorausgesetzte These als zweifelhaft: Betrachtet man Ost und West getrennt, ist die AfD gerade in relativ strukturstarken Regionen auffällig erfolgreich.

Der erste Blick: Die AfD ist besonders stark im strukturschwachen Osten und im strukturschwachen Ruhrgebiet

Auf den ersten Blick hat der Zusammenhang von Strukturschwäche und rechtem Wahlverhalten eine hohe Plausibilität: Alle wissen, dass der Osten vergleichsweise strukturschwach ist, alle wissen, dass die AfD im Osten besonders gut abschneidet; alle wissen, dass das Ruhrgebiet strukturschwach ist, alle wissen, dass die AfD im Ruhrgebiets für westdeutsche Verhältnisse hohe Wahlergebnisse erzielt.

Schaut man sich Deutschlandkarten an, auf denen Indikatoren für Strukturschwäche verzeichnet sind, und vergleicht sie mit Karten, die AfD-Ergebnisse wiedergeben, zeigt sich diese Tendenz auch deutlich.

Auf den folgenden Karten sind ganz links die Wahlergebnisse der AfD bei der Bundestagswahl 2017 dargestellt, daneben die Arbeitslosenquote, das Haushaltseinkommen, der Bevölkerungsanteil unter 6 Jahren und der Bevölkerungsanteil über 75 Jahre. Dunkle Farben bedeuten jeweils hohe Werte. Arbeitslosigkeit und Einkommen sollen dabei für die wirtschaftlichen Aspekte von Strukturschwäche stehen, die Alterszusammensetzung für die demografischen Aspekte. In strukturschwachen Regionen müsste die Arbeitslosigkeit hoch, das Haushaltseinkommen niedrig, die Zahl der kleinen Kinder gering und die Zahl der alten Menschen groß sein (zusammen wiese beides auf eine stark schrumpfende Bevölkerung hin) . Die Karten, aus denen die Zusammenschnitte bestehen, stammen schlicht von den Orten im Netz, wo sich am schnellsten brauchbare Abbildungen fanden.[1] Aus pragmatischen Gründen habe ich darauf verzichtet, auch Darstellungen der Infrastruktur (Ärztedichte, Fahrtdauer zum nächsten Krankenhaus etc.) aufzunehmen. Diese hätten die Darstellungen unübersichtlicher gemacht, das Ergebnis aber nicht in relevanter Weise verändert.[2]

Strukturschwäche und rechtes Wahlverhalten in Deutschland (Bildquellen s. Anmerkung 1)

Die Karten weisen ein klares Ost-West-Gefälle auf, das einen Zusammenhang von Strukturschwäche und Wahlverhalten plausibel scheinen lässt: In Ostdeutschland (ohne Berlin gedacht) wird mehr AfD gewählt, ist die Arbeitslosigkeit höher und das Einkommen niedriger, gibt es mehr sehr alte und weniger sehr junge Menschen. Auch das Ruhrgebiet erscheint in den Karten deutlich als relativ strukturschwache Region mit hohen AfD-Wahlergebnissen – zu erkennen im Kontrast zu den südlich benachbarten Großstädten Düsseldorf und Köln, die jeweils sehr viel besser dastehen.

Jedoch lassen diese Karten bereits erkennen, dass beim Wahlverhalten eine relativ scharfe Ost-West-Grenze besteht, während das Ost-West Gefälle in den Indikatoren für Strukturschwäche eher fließend ist – insbesondere von Niedersachsen nach Sachsen-Anhalt. Das deutet darauf hin, dass die Variable „ostdeutsch/westdeutsch“ auch unabhängig von Strukturschwäche ein Prädiktor für Wahlverhalten ist, in Ostdeutschland also in einem Maße rechts gewählt wird, das durch Strukturschwäche allein nicht zu erklären ist.

Ostdeutschland: Das Nord-Süd-Gefälle passt nicht zur These

Schneidet man den westlichen Teil dieser Karten ab und betrachtet nur die fünf östlichen Bundesländer (und notgedrungen Berlin), wird der Zusammenhang von Strukturschwäche und Wahlverhalten fragwürdig:

Strukturschwäche und rechtes Wahlverhalten in Ostdeutschland (Bildquellen s. Anmerkung 1)

Bezogen auf zahlreiche Strukturschwächemerkmale besteht (auch) im Osten ein leichtes Nord-Süd-Gefälle: Der südliche Rand steht insbesondere in Bezug auf Arbeitslosigkeit besser da als der Norden, in Bezug auf Haushaltseinkommen und demographische Entwicklung zumindest nicht schlechter.[3] Berlin bildet innerhalb Ostdeutschlands freilich eine deutliche Auffälligkeit, die auf den Karten klar zu erkennen ist und sichtbar auf die umliegenden Regionen Brandenburgs ausstrahlt.

Die größten Erfolge feiert die AfD jedoch gerade in den südlichsten Regionen Ostdeutschlands, also in Thüringen und Sachsen und dort jeweils wieder in den südlicheren Wahlkreisen. Mehr noch: Genau in diesen südlichen Regionen Ostdeutschlands sind auch die am deutlichsten rechtsextremen Akteur_innen in der AfD am lautesten, hier war die NPD bis 2013 besonders stark (mit einer zweiten Hochburg in Mecklenburg-Vorpommern), hier sind Brennpunkte der Rechtsrock-Szene, hier war der NSU beheimatet, hier waren die seit dem Ende des NSU aufgedeckten rechtsterroristischen Aktivitäten konzentriert, hier entstand Pegida und hier liegt Chemnitz, das zuletzt im Fokus der Aufmerksamkeit stand. In Sachsen ist zudem die CDU inhaltlich besonders nah am AfD-Kurs.

Andererseits lässt sich im Osten Deutschlands auch ein Binnengefälle von West nach Ost erkennen, bei dem der besonders strukturschwache Osten Ostdeutschlands etwas höhere AfD-Ergebnisse verzeichnet als der nicht ganz so strukturschwache Westen Ostdeutschlands. Dies stimmt mit der vielzietierten Strukturschwäche-These überein.

Wenn man Ostdeutschland separat betrachtet, zeigt sich somit insgesamt kein eindeutig positiver Zusammenhang von Strukturschwäche und rechtem Wahlverhalten: Im Ost-West-Binnengefälle ist der oft behauptete Zusammenhang sichtbar, im Nord-Süd-Gefälle zeigt sich (insbesondere in Bezug auf Arbeitslosigkeit, insbesondere am südlichsten Rand) das ganaue Gegenteil: Die AfD ist in verhältnismäßig strukturstarken Regionen am stärksten.

Westdeutschland: Die AfD ist stark, wo die Arbeitslosigkeit niedrig ist

Schneidet man andersherum die östlichen Teile der Deutschlandkarte ab und behält nur die westlichen im Blick, ergibt sich ein durchaus ähnliches Bild: Wieder besteht ein Nord-Süd-Gefälle, in dem der Norden (mit Ausnahme von Hamburg und Umgebung) verhältnismäßig strukturschwach ist; wieder ist die AfD im Süden deutlich stärker als im Norden.

Strukturschwäche und rechtes Wahlverhalten in Westdeutschland (Bildquellen s. Anmerkung 1)

Einzig das Ruhrgebiet scheint hier der gängigen These von Strukturschwäche als Prädiktor von rechtem Wahlverhalten deutlich zu entsprechen (tendenziell auch Osthessen sowie einige Regionen im Norden und Osten Bayerns). Mit Abstrichen gilt ähnliches für Bremen, das relativ strukturschwach ist und – entgegen dem allgemeinen Trend – als Großstadt höhere AfD-Ergebnisse verzeichnet als seine ländliche Umgebung.

Auch eine separate Betrachtung Westdeutschlands weist somit insgesamt gerade nicht darauf hin, dass Strukturschwäche und rechtes Wahlverhalten ohne weiteres zusammengehen: In Baden-Württemberg und Bayern ist die Arbeitslosigkeit besonders niedrig und das Durchschnittseinkommen besonders hoch, die AfD aber relativ stark.

Ausblick: Historische Dynamik und politische Kultur

Eine mögliche Rettung des Zusammenhangs könnte in einer Betrachtung des zeitlichen Verlaufs von Strukturschwäche bestehen. Dann müsste man zeigen, dass rechtes Wahlverhalten gerade in den Regionen anzutreffen ist, die einen Prozess der Strukturschwächung erlebt haben. Dies gilt ganz offensichtlich für das Ruhrgebiet und Bremen. Der Süden Ostdeutschlands war zu DDR-Zeiten (und davor) stärker industrialisiert als der Norden. Entsprechend hat die durch die deutsche Einigung verursachte Deindustrialisierung im Süden auch stärkere Auswirkungen gehabt – obwohl die Region am Ende dieses Prozesses ökonomisch immer noch besser dasteht als Mecklenburg-Vorpommern oder weite Teile Brandenburgs.

Jedoch wird man rechtes Wahlverhalten auch unter Einbeziehung dieser historischen Dynamiken niemals ganz durch Strukturschwäche oder -stärke erklären können. Am offensichtlichsten zeigen dies die AfD-Erfolge in Regionen Bayerns und Baden-Württembergs, in denen weder von Strukturschwäche noch von Strukturschwächung die Rede sein kann.

Entscheidend ist es daher, auch die politische Kultur in den Blick zu nehmen, die in den entsprechenden Regionen rechtes Wahlverhalten begünstigt – dies gilt etwa für Sachsen und für Bayern in je eigener Weise.

 

Anmerkungen:

[1] Bei den Bildern handelt es sich um eigene Zusammenschnitte von Screenshots der folgenden Seiten:

AfD-Ergebnis:
https://interaktiv.morgenpost.de/analyse-bundestagswahl-2017/images/maps/AfD_multiples_big.jpg?v1
(für eine interaktive Darstellung: http://www.wahlatlas.net/btw/17/#!afd17z,default)

Arbeitslosigkeit, Haushaltseinkommen, Bevölkerungsanteile unter 6 und über 75 Jahren:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/ungleichheit-wo-deutschland-stark-und-schwach-ist-in-10-karten-a-1083053.html
(mit zahlreichen interaktiven Karten, basierend auf der aktuell nicht online verfügbaren FES-Studie „Ungleichheit in Deutschland. Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2015), für eine aktuellere Darstellungen der Arbeitslosigeit s. https://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistische-Analysen/Analyse-in-Grafiken/Arbeitsmarkt-nach-Regionen/Arbeitsmarkt-nach-Regionen-Nav.html

[2] Entsprechendes Kartenmaterial findet sich im oben verlinkten Spiegel-Artikel sowie auf dem Demografie-Portal von Bund und Ländern. Auch hier zeigen sich Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern jeweils strukturschwächer als die AfD-Hochburgen. Auch hier zeigen sich die süddeutschen Regionen mit hohen AfD-Wahlergebnissen besonders strukturstark.

[3] Nur in Bezug auf den Anteil der Über-75-Jährigen an der Bevölkerung passen Strukturschwächemerkmal und rechtes Wahlverhalten zusammen. Beim Anteil der Unter-6-Jährigen dagegen nicht, sodass sich die demografische Entwicklung im Süden Ostdeutschlands insgesamt nicht problematischer darstellt als im Norden Ostdeutschlands – oder im angrenzenden Norden des Bundeslandes Bayern. Für eine Karte s. Demografie-Portal.