Die Fiktion der Kontrolle. Acht Punkte gegen die Vorstellung, man könne einen „Schutz der Risikogruppen“ bei „kontrollierter Durchinfektion“ erreichen

Die Forderungen, die Social-Distancing-Maßnahmen bald herunter- und das gesellschaftliche Leben wieder hochzufahren, werden immer lauter und sie kommen aus verschiedenen Richtungen: Man hört sie aus wirtschaftsnahen Kreisen, aus Städten und Kommunen, von einigen Mediziner_innen (freilich eher von denen in Laboren und Talkshows als von denen auf den Intensivstationen), von ehemaligen Kulturstaatsministern sowie von vielen Menschen, die einfach keine Lust mehr auf den aktuellen Zustand haben. Am weitesten verbreitet ist dabei aktuell die Vorstellung, man könnte die allgemeinen Social-Distancing-Maßnahmen durch eine Art selektive Schutzisolation für Risikogruppen ersetzen. Während die besonders gefährdeten Gruppen die nächsten Monate in Heimisolation verbringen, sollen sich alle anderen, für die die Krankheit weniger lebensgefährlich ist, infizieren und immunisieren, sodass am Ende eine Herdenimmunität bestünde und die Risikogruppen aus ihrer Isolation entlassen werden könnten. Das mag für manche attraktiv und plausibel wirken. Wenn man aber ein paar Minuten darüber nachdenkt, entpuppt es sich als gefährlicher Größenwahn.

Es klingt so heroisch! Die Jungen und Gesunden seien stark genug, um dem Virus zu widerstehen. Deshalb sollen sie die Infektion auf sich nehmen, um so immun zu werden. Anschließend könnten sie dann einen immunisierten „Schutzwall“ um die Alten und Kranken bilden, die die Hochzeit des Infektionsgeschehens in Isiolation verbringen und dabei von den Jungen und Gesunden versorgt werden.

Es klingt so plausibel! Wenn der Virus fast nur die Alten und Kranken tötet, dann reicht es doch auch, die Alten und Kranken zu isolieren! Warum sollte man denn auch alle anderen voneinander distanzieren?

Es klingt so attraktiv! Endlich könnte der Großteil der Menschen wieder vor die Tür und ein normales Leben leben. Schulen, Universitäten, Geschäfte, Betriebe, Verwaltungen könnten wieder normal operieren. Wir könnten den Frühling genießen! Niemand wäre mehr wegen der Distanzierungsmaßnahmen von der Insolvenz bedroht oder auf Staatshilfen angewiesen! (Und die deutsche Esportirtschaft könnte gegenüber allen anderen einen Wettbewerbsvorteil gewinnen, indem sie als erstes wieder auf dem Markt ist, aber psssst!)

Es ist so ein gefährlicher Unsinn! Und das sollte klar werden, wenn man mal ein paar Minuten in Ruhe darüber nachdenkt.

1. Wer diesen Größenwahn ablehnt, ist nicht gegen den Schutz für Alte und Kranke, im Gegenteil

Zunächst: Einer der plumpesten rhetorischen Tricks, der Befürworter_innen dieser Durchinfektionsstrategie besteht in der Unterstellung, dass alle, die diese Strategie ablehnen, „gegen den Schutz der Risikogruppen“ seien. Das ist freilich eine bösartige Verdrehung und Unterstellung. Abgesehen von einigen marktradikalen Phantasten, die ernsthaft die Opferung der Alten und Kranken für die Gesundheit der Wirtschaft ins Spiel bringen, ist niemand gegen den Schutz dr Alten und Kranken. Aber viele haben begründete Zweifel daran, dass sich dieser Schutz überhaupt gewährleisten lässt, wenn sich große Teile der Bevölkerung anstecken.

Die einzige halbwegs plausible Art, die Risikogruppen wirklich effektiv zu beschützen, besteht  nicht in der anmaßenden Vorstellung, man könne eine Durchinfektion kontrolliert ablaufen lassen, sondern darin, die Ausbreitung des Virus konsequent einzudämmen. Ob das noch möglich ist, ist unklar, weil unklar ist, wie weit die Infektionen faktisch verbreitet sind. Aber man sollte nicht nach zwei Wochen Social-Distancing-Politik aufhören, es zu versuchen.

Und ja, egal, wie man im einzelnen vorgeht, sollte man den Risikogruppen selbstverständlich den bestmöglichen Schutz zukommen lassen. Aber man sollte sich nicht einbilden, das effektiv zu können, während sich der Rest der Bevölkerung infiziert.

2. Wer ist überhaupt „Risikogruppe“? Wahrscheinlich 20-30 Millionen Menschen in Deutschland

Das Argument für die Schutzisolation von Risikogruppen basiert vor allem auf den Statistiken über die Covid-19-Toten in Wuhan und Italien. Dort zeigte sich, dass die allermeisten Opfer alt waren und/oder an einer oder mehreren Vorerkrankungen litten. Mit diesen Fakten wird jedoch teils irreführend umgegangen.

Wenn davon die Rede ist, dass die meisten, die an Covid-19 sterben, eine oder mehrere Vorerkrankungen hatten, wird das oftmals in einem Ton formuliert, als handele es sich um eine kleine Minderheit schwerkranker Menschen, die „sowieso bald gestorben“ wären. Schaut man sich aber die Liste der relevanten Vorerkrankungen an, wird klar, dass es sich zu weiten Teilen um „Volkskrankheiten“ handelt, von denen Millionen betroffen sind. Krankheiten, mit denen man jahrzehntelang gut leben und dabei viele Erkältungs- und Grippewellen unbeschadet überstehen kann.

Zudem lässt schon schiere Umfang der zu isolierenden Risikogruppen große Zweifel an der Idee einer Schutzisolation aufkommen. Als Gruppen mit erhöhtem Risiko werden genannt (die Zahlen sind jeweils der erstbeste seriös aussehende Google-Treffer, aber auf die eine oder andere Million mehr oder weniger kommt es bei diesen Werten nicht an):

Zahl der Menschen ab 65 Jahre in Deutschland: 17,5 Millionen
Zahl der Menschen in Deutschland mit COPD: 6,8 Millionen
Zahl der Menschen in Deutschland mit Diabetes: 7 Millionen
Zahl der Menschen in Deutschland mit Bluthochdruck: 20-30 Millionen
Zahl der Menschen in Deutschland mit Asthma: 8 Millionen
Zahl der Menschen in Deutschland, bei denen in den letzten fünf Jahren eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde: 1,67 Millionen
Zahl der Menschen in Deutschland mit Immundefiziten: (hier finde ich keine gute Zahl, es dürften wohl einige Hunderttausend sein, wenn man die verschiedenen Formen zusammenzählt)
Zahl der Raucher_innen in Deutschland: 14,86 Millionen

Darüber hinaus werden Menschen mit Übergewicht genannt, aber ich bin mir unsicher, wie man da die Größe der Risikogruppe einschätzen soll und ich will mich hier auch nicht an pathologisierenden Diskursen beteiligen. Auch unter den 13 Millionen Menschen mit Behinderung finden sich weitere Risikogruppen, die oben nicht erfasst sind. Weiterhin sterben weitaus mehr Männer als Frauen – aber das kann auch sehr gut daran liegen, dass in den betroffenen Altersgruppen mehr Männer als Frauen rauchen, von Bluthochdruck betroffen sind usw., weshalb ich „Männer“ hier nicht als Risikogruppe aufliste.

Man kann diese Zahlen wohlgemerkt nicht einfach addieren. Vielmehr ist von sehr großen Schnittmengen auszugehen. Viele der genannten Krankheiten entwickeln sich im Laufe des Lebens, sodass sie bei Älteren eher anzutreffen sind als bei Jüngeren. Diese Schnittmengen machen das Problem einerseits kleiner, weil sich die Gesamtzahl der Menschen in Risikogroppen dadurch verringert. Sie machen das Problem aber andererseits auch größer, weil es dadurch sehr, sehr viele Menschen gibt, die mehrere Risikofaktoren in sich vereinen. Die Mehrheit der Menschen über 70 leidet an Bluthochdruck etc., viele Menschen mit COPD sind auch älter etc.

Aber wie definiert man die zur Isolation verpflichteten Risikogruppen eigentlich genau? Und auf welcher Grundlage fällt man diese sehr folgenreiche Entscheidung? Ist jede Person, die einer dieser Gruppen angehört, Teil der zu isolierenden Risikogruppe? Gehört also eine kerngesunde 65-jährige Frau ebenso dazu wie ein zwanzigjähriger Diabetiker? Oder muss man mehrere Kriterien zugleich erfüllen? Oder gibt es eine Art Punktesystem? Jedes Lebensahrzehnt über 20 gibt 1 Punkt, COPD 2 Punkte, Diabetes 2 Punkte, Krebs 3 Punkte, Bluthochdruck 2,5 Punkte usw., und wer insgesamt mehr als 5 Punkte hat, ist Risikogruppe?

So oder so gilt: Selbst wenn man sehr vorsichtig schätzt, dürfte die Zahl der durch Isolation zu schützenden Personen bei mindestens 10, wahrscheinlicher irgendwo zwischen 20 und 30 Millionen, also zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bevölkerung liegen. Unter Umständen würde sie die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung umfassen.

3. Wie soll der „Schutz“ überhaupt funktionieren?

Aber wie soll man so viele Menschen überhaupt isolieren? In den gängigen Stellungnahmen klingt es recht einfach: Die älteren Leute sollen einfach mal drei Monate zu Hause bleiben, während die jüngeren ihr normales Leben leben, sich anstecken und zwischendurch Care-Pakete vor die Türen der Älteren legen. So weit, so idyllisch.

Aber in welcher Welt soll das eigentlich funktionieren?

Wer von der „Durchinfektion“ der Bevölkerung spricht, spricht von einem Szenario, in dem viele Millionen Menschen gleichzeitig mit dem Virus infiziert sind. In der Spitze könnte das ein Fünftel der nicht isolierten Bevölkerung sein, also unter Umständen auch jede fünfte Person auf der Straße, im Supermarkt, in der Pflege in Krankenhäusern usw. – das soziale Leben soll ja weitergehen! Entsprechens müsste die Strenge der Isolation für die Risikogruppen sehr viel drastischer ausfallen als aktuell. In einer Umgebung, in der man an  buchstäblich jeder Straßenecke einer infizierten Person begegnen kann, wäre jeder Weg vor die Tür für Risikogruppen um ein vielfaches gefährlicher als es heute der Fall ist.

Zudem gibt es sehr große Problembereiche, in denen fraglich ist, ob sich dieses Ausmaß der Schutzisolation auch nur im Ansatz gewährleisten lässt.

Isolation und Pflege: In Deutschland sind etwa 3,4 Millionen Menschen pflegebedürftig – und diese Menschen zählen zum größten Teil zu den Risikogruppen. Egal, ob die Pflege ambulant oder in Heimen geleistet wird, stellt sich die Frage: Wie um alles in der Welt soll man so viele Menschen zugleich pflegen und isolieren? Sicherlich kann man das dort tätige Personal sehr hochfrequent testen, sicherlich kann man irgendwann gezielt Personen einsetzen, die bereits immunisiert sind (aber eben erst am Ende der Welle), sicherlich kann man die Hygiene- und Besuchsvorschriften verschärfen. Aber egal, wie viel Mühe man sich gibt: Wenn große Teile der Bevölkerung infiziert sind, wird es zu Unfällen und zu Ausbrüchen in Pflegeheimen kommen. Schutzmasken und Vorsicht werden das nicht verhindern.

Isolation und medizinische Versorgung: Wer eine schwere Krankheit hat, muss behandelt werden und kann darauf nicht ein halbes Jahr warten. Wer Krebs hat und auf Chemotherapie angewiesen ist, muss diese erhalten, muss sich in die entsprechenden Einrichtungen begeben. Und wiederum sind es die Risikogruppen, die besonders oft in Krankenhäuser und zu Ärzten müssen. Kann man diesen Gruppen angemessene medizinische Versorgung anbieten und sie zugleich effektiv von der Krankheit isolieren? Kann man das, wenn auch große Teile des medizinischen Personals sich anstecken werden? Kann man das, wenn auch zahlreiche junge Covid-19-Patient_innen medizinisch versorgt werden müssen? Wie?

Isolation und Wohnen I: In Deutschland leben sehr viel weniger Menschen in Haushalten mit mehr als zwei Generationen, als es etwa in Südeuropa der Fall. Dies dürfte jetzt schon zur Entschärfung der hiesigen Lage beitragen und es verbessert die Bedingungen für eine Isolation von Risikogruppen erheblich. Aber auch hierzulande gibt es zahlreiche Personen aus Risikogruppen, die mit anderen zusammenwohnen. Es gibt in Deutschland immerhin über 3 Millionen Menschen über 65, die mit Menschen unter 65 in einem Haushalt wohnen sowie über 200.000 Haushalte, in denen drei oder mehr Generationen leben. Diese Formen des Zusammenwohnens finden sich überproportional in Familien, die sich getrenntes Wohnen finanziell nicht leisten können. Es gibt keine entsprechenden Statistiken darüber, in was für Haushalten die Gruppen mit den genannten Vorerkrankungen leben. Aber es ist sicher nicht davon auszugehen, dass alle fünfigzigjährigen Männer mit Bluthochdruck und Diabetes in einem Single-Haushalt wohnen. Was passiert mit diesen Menschen aus Risikogruppen, die mit anderen in einem Haushalt leben? Werden dann jeweils die ganzen Haushalte isoliert? Und wie viele Haushalte bleiben dann eigentlich noch übrig? Junge Familien mit Kindern, einige Single-Haushalte und Studi-WGs? Oder dürfen die betreffenden Personen in Hotels ziehen, wo sie dann versorgt werden? Was passiert dann mit den Menschen, um die sich diese gefährdeten Personen sonst kümmern, also etwa mit Kindern, deren alleinerziehendes Elternteil einer Risikogruppe angehört? Werden die mitisoliert oder von ihren Bezugspersonen getrennt?

Isolation und Wohnen II: Bei denjenigen, deren Wohnsituation eine Isolation im Haushalt ermöglicht, ist zu fragen, ob sie zumutbar ist. Wenn Menschen in einem Einzimmerapartment ohne Balkon und Sonnenschein wohnen, kann man sie dort über Monate isolieren? Wie gesagt: Die Isolation müsste unter den zu erwartenden Bedingungen sehr viel strenger sein als aktuell. Würden sie das ohne Gesundheitsschäden überstehen? Oder würde man auch für diese Menschen schöne Hotelzimmer anmieten?

Isolation und Tätigkeit: Nicht alle Risikogruppen sind im Ruhestand. Aber wie sollen Arbeitskräfte, Schüler_innen oder Studierende isoliert werden, die zu Risikogruppen zählen? Werden sie von jeglicher Präsenzpflicht befreit und erhalten Nachteilsausgleich?

Isolation und Leben I: Auch für Supermärkte und andere Geschäfte gilt: Wenn die Bevölkerungsmehrheit durchinfiziert würde, könnte man die Risikogruppen dort gar nicht mehr hingehen lassen. Das heißt wiederum, dass die Isolation dieser Gruppen sehr viel strenger, die Fremdversorgung sehr viel umfassender sein müsste als jetzt. Wer leistet dies wie? Bei weitem nicht alle haben Familie vor Ort, die das tun könnte?

Isolation und Leben II: Und wie sieht es eigentlich mit dem sonstigen Leben aus? Kann man diese Menschen noch guten Gewissens in Parks mit anderen spazierengehen lassen? Es wäre wohl deutlich weniger sicher als jetzt.

Isolation und Zwang: Eine letzte Frage ist noch: Kann und darf man diese Isolation überhaupt durchsetzen? Ist es moralisch und verfassungsrechtlich legitim, Millionen von Menschen in erster Linie aufgrund ihres Alters auszuwählen und dann zwangsweise in Schutzisolation zu schicken? Verstößt das gegen Antidiskriminierungsrecht? Ist das überhaupt durchzusetzen?

Nicht jedes dieser Probleme ist unbewältigbar – gerade in Bezug auf die Berufstätigkeit und die Wohnsituation könnte man mit entsprechender staatlicher Hilfe durchaus einiges erreichen. In der Summe sollten sie aber verdeutlichen: Wer glaubt, 20 Millionen Menschen, die überproportional auf Pflege und medizinische Behandlung angewiesen sind, über Monate effektiv isolieren zu können, überschätzt sich gewaltig.

Egal, wie sehr man sich bemüht: Wenn der Rest der Bevölkerung durchinfiziert wird, werden auch viele, viele Menschen aus den Risikogruppen infiziert. Selbst wenn man über Monate hinweg einen fünfundneunzigprozentigen Schutz erreichen könnte – und das wäre schon sehr viel –, würden sich eine Million Risikopatient_innen anstecken. Selbst wenn diese Million gleichmäßig über sechs Monate verteilt wäre, würde das wohl für die Überlastung des Gesundheitssystems ausreichen.

4. Wie hoch ist das Risiko für „Nicht-Risikogruppen“?

Aber das Restrisiko der Risikogruppen ist nur ein Teil des Problems. Auch die (vermeintlichen) “Nicht-Risikogruppen” wären einem Risiko ausgesetzt, das man zum aktuellen Zeitpunkt kaum seriös abschätzen kann. Die Daten, auf deren Grundlage die Risikogruppenbestimmt werden, sind Sterberaten. Sowohl in China und Italien als auch anderswo zeigt sich, dass die überwältigende Mehrheit derer, die an Covid-19 sterben, entweder alt sind oder mehrere Vorerkrankungen haben oder beides. Aber: Nicht zu sterben ist noch nicht sehr viel. Nicht zu sterben kann im Falle von Covid-19 auch heißen, mit großer Not und dank Intubation und Beatmung gerade so eine schwere Lungenentzündung zu überleben.

Doch während uns die vorhandenen Daten ein recht gutes Bild davon vermitteln, welche Gruppen besonders stark gefährdet sind, gibt es bislang fast keine brauchbaren Statistiken darüber, welcher Anteil der Infizierten aus welcher Altersgruppe mit welcher Wahrscheinlichkeit welchen Krankheitsverlauf zu erwarten hat. Sicher ist, dass aktuell kerngesunde Skiurlauber_innen im besten Alter auf deutschen Intensivstationen künstlich beatmet werden. Wie hoch aber das Risiko eines 40jährigen ohne Vorerkrankung ist, diese Erfahrung machen zu müssen ist völlig unklar. Dafür bräuchte man nicht nur umfangreiche Daten darüber, wer genau in welchem Zustand in den Krankenhäusern war (aus Spanien und den USA gibt es zumindest eine gewisse Grundlage), man müsste diese Daten auch ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Infizierten setzen. Aber gerade diese Zahlen existieren nur in sehr rudimentärem Ausmaß, die Schätzungen über die Dunkelziffer variieren enorm.

Wenn nur 1% der vermeintlichen Nicht-Risikogruppen im Infektionsfall intensivmedizinische Versorgung bräuchten – das ist nicht sicher, aber es kann gut sein –, wären das immer noch Hunderttausende, was wiederum reichen würde, um das Gesundheitssystem zu überlasten. Wären es nur 0,1% wären es dagegen “nur” Zehntausende. Verteilte sich dieser Bedarf über ein halbes Jahr, könnte das Gesundheitssyste das eventuell leisten – wenn man von den zu erwartenden Erkrankungen unter Risikogruppen absieht. Aber aktuell gibt es keine ernsthafte Basis, auf der man das einschätzen könnte. Als sicher kann dagegen gelten: wenn einige zehnmillionen Menschen aus “Nicht-Risikogruppen” sich anstecken, wird es mit Sicherheit auch Tote geben. Als Unverwundbar kann niemand gelten.

Ebenso unklar sind die Folgen einer überstanden Infektion. Wie erholt sich eine Lunge, wie das Herz-Kreislauf-Systemm nach einer Covid-19-Lungenentzündung? Eine Studie unter Erkrankten auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess zeigte, dass auch viele Patient_innen, die subjektiv keine Symptome spüren, im CT anschließend Symptome einer Lungenentzündung zeigen. Was heißt dies? In wie vielen Fällen kommt es zu irreversiblen Schäden? Wie schwer sind diese? In wie vielen Fällen besteht anschließend eine höhere Anfälligkeit für künftige Lungenentzündungen? Wie lange braucht es bis welcher Grad der Erholung erreicht ist? Bei einer Krankheit, die erst seit drei Monaten bekannt ist, wissen wir über diese Fragen noch sehr wenig. Und dann soll man es bewusst zulassen, dass viele Millionen Menschen in Deutschland sich „kontrolliert“ infizieren?

Wieder stellt sich die Frage: Kann und darf man dies überhaupt entscheiden? Damit sich „Herdenimmunität“ und „Schutzwall“ herstellen, müssten sich ja wirklich fast alle außerhalb der Risikogruppen infizieren. Was aber, wenn viele gar keine Lust dazu haben und in Selbstisolation bleiben? Soll man sie zur Ansteckung zwingen?

5. Wenn man ein Viertel der Bevölkerung isoliert, kann man schon rein mathematisch keine effektive Herdenimmunität herstellen

Am Ende besteht auch noch ein mathematisches Problem, das aus der Verbindung der Ideen von Herdenimmunität und Schutzisolation folgt.

Epidemien breiten sich in einer nicht immunisierten Bevölkerung zunächst exponentiell aus, bis es irgendwann zu einem Sättigungseffekt kommt. Je mehr Menschen die Infektion schon hinter sich haben und somit immunisiert sind, desto weniger kann eine aktuell infizierte Person noch anstecken und desto langsamer breitet sich die Krankheit aus. Wenn dann 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immun sins, so heißt es, sei die Herdenimmunität hergestellt, sodass das Ansteckungsgeschehen weitestgehend zum Erliegen komme.

Das Problem ist nun Folgendes. In Deutschland leben etwa 80 Millionen Menschen, von denen man mindestens 20 Millionen „schutzisolieren“ müsste. Das heißt, die Bevölkerung, die dem Infektionsgeschehen ausgesetzt wäre, betrüge noch maximal 60 Millionen. Wenn aber diese 60 Millionen von den anderen 20 Millionen getrennt wären, müsste sich die Herdenimmunität dieser Teilgruppe schon einstellen, sobald 60 bis 70 Prozent der 60 Millionen die Infektion hinter sich hätten. Das wären etwa 40 Millionen Menschen. Danach würde dass Infektionsgeschehen zum Erliegen kommen, der Virus wäre aber hier und da noch aktiv. Wenn man dann anfinge, die Isolation der Risikogruppen aufzuheben, wäre die effektive Bevölkerung wieder bei 80 Millionen, von denen aber nur 40 Millionen immunisiert wären. Dann läge die Quote der Immunen wieder nur bei 50% und es wäre keine effektive Herdenimmunität gegeben. Das Infektionsgeschehen würde wieder Fahrt aufnehmen, bis weitere 10 Millionen infiziert wären und man hätte fast nichts erreicht.

Andersherum gedacht: Um eine Herdenimmunität für die Gesamtbevölkerung herzustellen, müssten etwa 50 Millionen Menschen immun sein. Dies kann man aber auf dem Weg einer “natürlichen” Durchinfektion gar nicht erreichen, wenn 20 bis 30 Millionen in Isolation sind. Das heißt, man müsste die Infektionsrate unter den “Nicht-Risikogruppen” in der Zeit der Isolation sogar noch durch künstliche Ansteckungen erhöhen. Das wäre schwere Körperverletzung oder Selbstverletzung.

6. Nach der Entscheidung für diese Strategie wird es einen Point of no Return gebe

Das Fatale an dieser Strategie: Bis wirklich man sieht, wie schlecht sie funktioniert, vergehen einige Wochen. Aber nach einigen Wochen wird auch ein Punkt der Durchinfektion erreicht sein, an dem eine Umkehr durch Social Distancing schwer bis unmöglich wird. Die alternativen Strategien, die auf eine Stilllegung des Infektionsgechehens zielen, haben keinen solchen Punkt ohne Wiederkehr.

7. Warum sollte es hier klappen, wenn alle anderen es aufgegeben haben?

Schließlich ist darauf zu verweisen, dass das Vereinigte Königreich und die Niederlande anfangs mit genau diesem Konzept geliebäugelt hatten, es aber sehr schnell aufgeben mussten. Auch in Schweden scheint man das Vorgehen angesichts des rasanten Anstiegs der Todesfälle langsam aufzugeben und sich – quälend langsam – auf eine Social-Distancing-Strategie zuzubewegen.

Warum sollte in Deutschland klappen, was andernorts gescheitert ist?

8. Ist das wirklich im Interesse von irgendwem?

Vor dem Hintergrund all dieser offenen Fragen, sollten sich diejenigen, die mit diesem Ansatz liebäugeln ernsthaft fragen, ob er wirklich in ihrem Interesse sein kann. Es mag für Unternehmen und Menschen, die sich Normalität wünschen, attraktiv scheinen, das gesellschaftliche Leben schnell wieder „hochzufahren“. Wenn dieses „Hochfahren“ aber bedeutet, dass das Gesundheitssystem bald zusammenbricht, wird niemand den Frühling genießen und die Wirtschaft sicher nicht florieren.

Dies gilt umso mehr, weil es eine Alternative gibt: Man könnte immer noch versuchen, die Infektion wie Südkorea einzudämmen, wo es bei fortgesetzt hohen Testzahlen schon seit drei Wochen an keinem Tag mehr als 152 neue Fälle gab. Das kostet im Erfolgsfall mit Sicherheit weniger Menschenleben – und wahrscheinlich wäre es auch „besser für die Wirtschaft“.